Ulrich Zankanella: "Alle Frauen saßen in der prallen Sonne"

Blutrache in Albanien, ukrainische Beichtstuhltricks und behördlich bewilligte Klostersuppenempfänger in Sarajewo. Der Franziskanerpater Ulrich Zankanella über seine Arbeit in Ost- und Mitteleuropa.

War der Eintritt in den Bettelorden der Franziskaner für Sie eine schmerzliche Einschränkung?

P. Ulrich Zankanella: Schmerzlich nicht, aber bewusst. Ich war natürlich begeistert von der Figur des Franz von Assisi, aber auch von der Idee eines relativ einfachen Lebens, das in der Beziehungsfähigkeit und in der Beziehung zu anderen Menschen einen Wert sieht, der vieles andere ersetzt. Der reichste Mensch, der keine guten Beziehungen hat, ist ein armer Teufel. Wir haben zudem den Vorteil, dass wir in Gemeinschaft leben. Ich brauche also nie allein eine Mahlzeit hinunterzuwürgen. Das ist ein ganz großer Reichtum.

Sie sind Leiter der Hilfsorganisation „Franz hilf!“, die mit mehr als 660 Millionen Euro pro Jahr Sozialprojekte der Franziskaner in Mittel- und Osteuropa unterstützt. Verträgt sich diese Managerfunktion überhaupt mit der franziskanischen Spiritualität?

Sie liegt in der Tradition des franziskanischen Umverteilens. Über die Jahrhunderte haben Franziskaner die Nöte der Armen finanziert durch – manchmal auch sehr professionelles – Betteln bei den Reichen. Das ist genau meine Linie – wenn ich auch das meiste Geld nicht von den Reichen bekomme: Viele hundert Spenden liegen in der Größenordnung von drei bis zehn Euro.

Man könnte fast sagen, dass Sie sich der persönlichen Vermarktung als Galionsfigur von „Franz hilf!“ verweigern. Ist das nicht ein Fehler?

Vielleicht. Aber ich arbeite ja im Auftrag, es war nicht meine Initiative. Ich war in den letzten Jahren des Kommunismus der Provinzial hier in Wien, also der Obere, hatte also meine Finger in Ungarn, der Slowakei, der Ukraine und Rumänien. Nach 1990 kam an viele Franziskaner eine Fülle von Bettelbriefen, und da wollten sie eine zentrale Stelle und haben mir gesagt: Fang was an und bau was auf!

Warum ist es gerade den Franziskanern gelungen, auch im Kommunismus ihre Strukturen zu bewahren?

Am Balkan waren die Franziskaner über Jahrhunderte die einzigen katholischen Priester, die während des türkischen Reiches tätig sein durften. Zum Teil musste das teuer erkauft werden, etwa die von den Sultanen garantierte Reisefreiheit. Seit damals gibt es den Ehrennamen „Uljak“. Das bezeichnet den Bruder der Mutter. Wenn der türkische Dorfpolizist gefragt hat: Wer ist der fremde Mann, der da gekommen ist? Dann hat man gesagt: Na ja, der Uljak, der Bruder der Mutter. Diese Tradition ist unter den Kommunisten weitergegangen. Die Leute haben gewusst, die Franziskaner sind auf unserer Seite, und haben sie beschützt.

Aber in Albanien, wo Sie heute auch tätig sind, war doch jede Religionsausübung streng verboten?

In Albanien sind fast alle umgekommen. Ein Teil der Brüder wurde im Winter an Bäume gefesselt und immer wieder mit Wasser übergossen, andere wurden erschossen. Die meisten sind bei der Zwangsarbeit in den Malariasümpfen gestorben. Nur vier oder fünf haben überlebt, beeindruckende Persönlichkeiten, die sich interessanterweise nach dem Systemwechsel vor allem für die Eindämmung der Blutrache eingesetzt haben.

Blutrache – in den 1990er-Jahren?

Das gab es noch – auch bei katholischen Familien. Als ich 1995 das erste Mal dort war, hat man mir ein Video von einem Versöhnungsritus gezeigt: Nach jahrelangen Verhandlungen, bei denen immer ein Franziskaner dabei sein musste, um die Leute zurückzuhalten, mussten alle Männer einer Familie, ab dem 12. Geburtstag, die Hand auf den Altar legen und beim heiligen Antonius und bei Gott – in dieser Reihenfolge – schwören, dass sie auf die Rache verzichten.

Wie hat das dann aufgehört?

Indem sich der Lebensstandard ein wenig gehoben hat. Ich war damals in den albanischen Bergen: das Primitivste, was ich je gesehen habe. Dabei war ich davor schon in den brasilianischen Favelas. Kennzeichnend war auch die Gottesdienstsituation: Es gab kein Kirchengebäude. Alle Männer saßen im Schatten eines großen Baumes, alle Frauen saßen in der prallen Sonne.

In der Ukraine konnte das Überleben der Franziskaner doch auch nicht einfach gewesen sein.

In der kommunistischen Zeit gab es die Erlaubnis, dass ein katholischer Priester pro Bezirk offiziell arbeiten durfte. Messe feiern durfte man aber nur auf Friedhöfen, und die zwei, drei Brüder, die überlebt hatten, haben meist in einem Nebenraum der Friedhofskapellen gelebt, in erschütternden Umständen. Man hat mir dort auch einen Beichtstuhl gezeigt, der ein Hintertürl hatte. Die Leute sind rein- und rausgegangen und haben Beichte gespielt – und der Priester war längst unterwegs zu einer Krankenkommunikation.

Sind die ukrainischen Kinder, die Sie in Heimen betreuen, Waisenkinder?

Nein. Es sind Kinder aus Familien am unteren Rand der Gesellschaft. Dort ist das Problem der Mangelversorgung, sehr groß: Arbeitslosigkeit, minimale Altersrenten, die gerade für das Brot reichen, aber schon nicht mehr für die Butter, kaum Behinderteneinrichtungen. Es geht bei den meisten unserer Projekte buchstäblich um das tägliche Brot. Wir haben in Sarajewo eine Suppenküche mit drei Ausgabestellen, die täglich an 1200 Personen ausgibt – an Menschen, die mit einem Armutszeugnis der Bezirksbehörde kommen. Weitere könnten wir gar nicht betreuen.

Helfen Sie dabei vornehmlich Katholiken?

Nein. Nicht der Taufschein ist die Bedingung, sondern der Hunger. Das hat man mir in Bosnien gelegentlich zum Vorwurf gemacht: Die anderen geben den Katholiken nichts, aber wir sollen den anderen etwas geben? Dort ist das aber auch verständlich, weil aus den Emiraten neue muslimische Vorbeter kommen, ausgestattet nicht nur mit dogmatischem Rüstzeug, sondern auch mit einer Menge Geld.

Sehen Sie auf dem Balkan eine islamische Gefahr?

Ich glaube, dass man unscharf abgrenzt. Die gewachsene Kultur der Region hat auf die Praxis der islamischen Lebensweise einen großen Einfluss. In Wüstengebieten ist der Islam wesentlich härter und radikaler als etwa in Indonesien, wo alles im Überfluss wächst. Die Abgrenzung ist schwierig: Was ist regionale Kultur, was ist islamische Lehre?

Eine ganz andere Frage: Was kann die Kirche heute von Franziskus lernen?

Zuwendung. Das Kriterium für einen Christen müsste Zuwendung sein oder, um es theologisch zu sagen: die missionarische Dimension. Ich muss dem Menschen entgegenkommen, ihm in seiner Sprache erschließen, was die Kirche eigentlich vermitteln will: die Güte Gottes. Der Herrgott ist gut, und du kannst das auch sein, weil er dich angerührt hat. Dass die Menschen merken, dass sie selbst gut sein können. Man kann kein größeres Geschenk machen als das Leben, und nicht nur das biologische. Wenn ich einen Menschen aus seiner Einsamkeit abhole, schenke ich ihm neue Lebensmöglichkeit.

Wenn der Mensch zur Empathie neigt, warum ist er so oft abweisend?

Wenn ich mich selber nicht mag, dann ist auch jeder andere ein Feind. Und mit der wirtschaftlichen Selbstständigkeit, wir erleben das in den Wohnvierteln, wächst auch der Anspruch der Unabhängigkeit: Zawos brauch i den? Und wenn ich ihn nicht brauche, will ich ihn nicht. Dann ist er mir im Weg.

Wie entwickelt sich die Empathie in Form von Spendenbereitschaft heute?

Kontrovers. Ich sehe etwa bei den Älteren eine relativ hohe Spendenbereitschaft. Bei den Jüngeren scheint das abzunehmen. Vielleicht ist das aber sektoriell verschieden. Vielleicht geben die Jüngeren eher etwas für den Umwelt- oder den Tierschutz. Vielleicht trägt auch dazu bei, dass die jetzige Seniorengeneration Not noch erlebt hat.

Hilft es denn dem Herzen, wenn man einmal arm war oder wenn man arm ist?

In der Schule Sacré Cœur haben sie ein sehr gescheites Projekt: In der siebenten Klasse müssen alle in eine soziale Institution, bekommen dafür auch Punkte – und die Jugendlichen kommen nach Auskunft der Lehrer verändert zurück. Weil die Not ein Gesicht bekommen hat. Das ist eine prägende Erfahrung: Wenn ich Not gesehen und Empathie aktiv geworden ist, wenn Mitleid sich nicht in Tränen, sondern Hilfeleistung ausgedrückt hat. Das gibt einem dann eine gute Hand mit den Menschen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.04.2011)

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