Du verdienst es nicht zu gewinnen

Sudan, im schatten. „Africa sucks“, sagt Nick aus Melbourne. Er hilft dort, wohin nur Berufene kommen: in den Hungerprovinzen.

Fünf Uhr dreißig. Ich wache auf und verlasse den Holzverschlag, um den Sonnenaufgang anzubeten. Afrika hat das schönste Licht der Welt. Wir sind in Lokichoggio, dem nördlichsten Kraal Kenias, direkt an der Grenze zum Sudan. „Loki“ – meist ist es hier zu heiß, um den ganzen Namen auszusprechen – hat etwas Besonderes. Auf der einen Seite der Hauptstraße liegt die Dritte Welt, auf der andern die Erste: links die Tagelöhner, die einen Liter Wasser für einen Shilling verkaufen, rechts das Hauptquartier der UN, die Restaurants, die Klimaanlagen, die Landebahn.

Seit 1989 gibt es hier ein von den Vereinten Nationen gestartetes Unternehmen, das den sinnigen Namen Operation Lifeline Sudan trägt. Diese Operation, die wohl längste in der Geschichte der Menschheit, hat die aberwitzige Aufgabe übernommen, den an einem gigantischen Hungertuch zehrenden Sudan am Leben zu erhalten. Wer eine Nahaufnahme auf dieses Land wagt, wird zuallererst einen Leichenhaufen ausmachen.

6.17 Uhr, ein erstes UN-Transportflugzeug des World Food Programme donnert über Lokkichoggio hinweg. 14.30 Uhr sitzen der Fotograf und ich in der letzten Maschine, die heute in den Sudan fliegt. Die Hercules C130 hat 11.700 Liter Kerosin getankt, um 16.200 Kilogramm Unimix, ein proteinreiches Breipulver, über Turalei abzuwerfen.

Der Ort liegt 463 Meilen von Loki entfernt, im Norden der zur Zeit elendsten Hungergegend der Welt, der sudanesischen Provinz Bahr el Ghazal. Ein mühselig ausgehandelter Waffenstillstand herrscht. Ein langer Blick hinunter auf ein trübes, karges Land bestätigt noch einmal, was mir vor Jahren ein Freund in Khartum zuflüsterte: „Hörst du ihn heulen? Das ist Allah, er denkt gerade an den Sudan.“

Lässige Atmosphäre an Bord, Ricky, einer der zwei „Loadmaster“, liegt in der Hängematte, ein paar Sonnenstrahlen treffen auf sein müdes Gesicht. Die fünf Mann Besatzung bestehen aus drei Nationalitäten. Unaufgeregte Profis, deren ruhige Bewegungen Umsicht und Sicherheit ausstrahlen.

Loadmaster Siegfried

Um 16.10 Uhr ist es so weit, wir werden neben der Rampe festgeschnallt, die Luke öffnet sich, das Flugzeug geht runter auf 700 Fuß, Siegfred, der andere Loadmaster von den Philippinen, kniet jetzt direkt neben der gewaltigen Öffnung, späht hinunter, gibt das Zeichen, Ricky durchschneidet mit dem Taschenmesser den letzten Gurt, die ersten neun Paletten mit je 36 Säcken Unimix rauschen in die Tiefe, für Bruchteile von Sekunden sackt das Heck der Hercules nach unten, mein sausender Bauch erinnert an das fröhliche Schreien von Kindern, die in solchen Momenten ihren Magen davonfliegen spüren.

Der Vorgang wiederholt sich, die nächste Fuhre wird abgeladen. Dann dreht die Maschine ab, um 18.30 Uhr sind wir zurück in Lokichoggio. Damit die Misere um ein paar Grade weniger zum Himmel stinkt, sind neben den Vereinten Nationen Dutzende von NGOs vor Ort tätig. Wir suchen und haben Glück, die französische Hilfsorganisation UDA (Urgence Développement Alimentaire) nimmt uns mit. Wir packen unsere Rucksäcke und besteigen eine bereits heftig mit Nachschub überladene Andorer, wieder Richtung Norden.

Leergebranntes, todtristes Land, die 2,5 Millionen Quadratkilometer riesige Fläche taugt für jede Katastrophe. Vom Piloten lerne ich den zynischen Satz: „Brauchst du ein Problem, geh in den Sudan.“ Hier haben sie jedes: niedergemachte Wälder, Überschwemmungen und Dürre, Heuschreckenraubzüge und Ratteninvasionen, eine galoppierende Bevölkerungszunahme und 54 Prozent Analphabeten, einen ersten Bürgerkrieg, einen zweiten, jetzt brennt es in Darfur. Die afrikanische Krankheit – Tribalismus – feierte auch im Sudan blutschwappende Orgien. Dass alle Kriegsparteien neben dem Abschlachten den Hunger, nein, das Aushungern – auch der eigenen Bevölkerungsgruppe – als Kriegswaffe benutzen, auch das garantiert die Endlosigkeit des Desasters.

Als wir nach zwei Stunden in Mapel landen, einem Savannendorf, ebenfalls in Bahr el Ghazar gelegen, fällt mir ein, dass ich eine Drangsal vergessen habe: Öffnet sich die Kabinentür, stockt man einen Moment, fühlt sich zurückgejagt von einer sudanesischen Mittagssonne. Das Herz rast. Kein Wunder, dass in dem Reiseführer „The world's most dangerous places“ dem Sudan ein ausführliches Kapitel gewidmet ist.

UDA und Ärzte ohne Grenzen haben in Mapel ein gemeinsames Camp. Kümmern sich die einen um die Ernährung der hiesigen Bevölkerung, übernehmen die anderen die medizinische Versorgung. Ein erster Blick auf die dunkelschwarzen, dünnen Gestalten, die das Flugzeug umringen, lässt ahnen, dass viel Arbeit anliegt.

Ein paar Whiskyflaschen

Die sechs Weißen vor Ort, Krankenschwesten und Logistiker aus drei Kontinenten, sehen nur um Spuren besser aus. „Africa sucks“, Afrika saugt dich leer, meint Nick, der Techniker aus Melbourne. Sein rotgestochener Oberkörper erzählt von der Wut der Moskitos. Malaria geht um, zwei Mitarbeiter wurden bereits mit Typhusverdacht ausgeflogen. Wir haben als Geschenk ein paar Whiskyflaschen mitgebracht. Wer hier drei Monate – die übliche Länge eines Vertrags – durchhält, hat ein Recht auf starke Beruhigungsmittel.

Was sogleich auffällt: Keiner der sechs Kanadier, Franzosen und Australier traktiert uns mit salbungsvollen Worten. Keine nach Afrika verschlagenen Heulsusen greifen hier ein, nie werde ich eine Bemerkung hören aus dem Wörterbuch des humanitären Wortschwalls. Am Eingang des Lagers hängt ein Schild, es zeigt eine mit rotem Balken durchgestrichene Kalaschnikow: Bitte unbewaffnet eintreten! Viel wäre aus dem Lager der sechs nicht zu rauben, ein paar Lehmhütten, ein bomb shelter gegen etwaige Luftangriffe, eine fliegenverseuchte Latrine und ein viereckiger Abtritt mit einem Kübel Wasser, die Dusche. „Der Held“, notiert Albert Camus einmal, „erweist sich im Alltag.“ An solchen Orten kann jeder für sich den Satz nachprüfen.

Zehn Minuten Fußmarsch vom Palisadencamp der Weißen entfernt, liegt das vor einigen Monaten eingerichtete TFC, das Therapeutic Feeding Center. Wer hier eintritt, sollte es behutsam tun. Um seine Augen an die Farben des Elends zu gewöhnen. Absurderweise fällt mir gerade jetzt ein dicker Mensch ein, der mir am Flughafen in Paris einen farbenfrohen Zettel reichte, auf dem fett und knusprig bebildert „Gigantischer Bratspieß“ stand, Hinweis auf den kulinarischen Renner eines Res-taurants.

Hier, im therapeutischen Ernährungs-Zentrum von Mapel liegen die Gäste am Boden. Die Kraft würde nicht reichen, einen Restaurantsessel zu erklimmen. Liegen da, hingestreckt von tagelanger Flucht, von wochenlanger Hungerkost, vom jahrelangen Krieg. Keines der knapp hundert Kinder verfügt über einen runden Oberschenkel. Die 28-jährige Isabelle, Krankenschwester aus Quebec, leitet den Hungerladen. Warum?, frage ich. Und der hübsche Mensch sagt trocken: „Ich hatte immer Glück. Es wurde Zeit, dass ich etwas zurückgab.“ Das Zurückgeben beginnt frühmorgens. Zusammen mit ihrem 22 Frauen und Männer starken Personal – ein paar Kenianer darunter, ansonsten Sudanesen – empfängt Isabelle täglich ab sieben Uhr die hereinwankenden Skelette. Keines verfügt über 70 Prozent seines Normalgewichts.

126 cm groß, 15 kg schwer

In der ersten Hütte werden sie gewogen. Um zu wissen, ob die fünfmal pro Tag verabreichte Spezialmilch – plus Proteinriegel und warmem Unimix-Brei – anschlagen. Wie Gehängte sehen die Kleinen aus, wenn ihr mürber Körper an der am Plafond befestigten Waage baumelt. Viele sind nackt, wer ein paar Fetzen am Leib trägt, muss sie nicht ablegen. Sie sind zu löchrig, zu porös, um ins Gewicht zu fallen.

Der achtjährige Deng schlurft auf einer Krücke herein, kauert sich auf den Boden, wartet, bis er drankommt. Will er aufstehen, muss er wie ein Dromedar die Erdanziehungskraft überwinden, verlagert sein Gewicht zuerst auf die Knie, kniet endlich, stellt den Stock vor sich auf und zieht stumm konzentriert sein 126 Zentimeter langes und 15 Kilo leichtes Knochengerüst mit dem parasitenverseuchten Wasserbauch nach oben. Der Umfang seines rechten Oberarms beträgt heute hundertzehn Millimeter – immerhin 56 Zündholzsstäbchen. Deng ist stets in Begleitung: Zwei Dutzend gefräßiger Fliegen schmarotzen an den vereiterten Eingängen seiner Haut.

Nach dem medizinischen Check-up – eine Lungenentzündung liegt hinter ihm – pilgert der Junge achtsam wie ein Greis Richtung Zelt, Richtung erste Mahlzeit, Richtung Leben. „Erstaunlich“, sagt Isabelle und deutet auf ihn, „wie gut er vorankommt.“ Sie muss es wissen, vor Wochen trugen sie ihn herein.

Deng löffelt die Milch vor dem Zelteingang, sein wütender Magen – permanente Durchfallgefahr – fordert einen Sicherheitsabstand vor den andern Essern. Wer 80 Prozent seines Gewichts erreicht hat, wird entlassen: Als jetzt „mäßig Unterernährter“ hat er einmal wöchentlich Anspruch auf vier Kilo Mais und zwei Kilo Unimix, angereichert mit Zucker und Speiseöl. Eine von der Weltgesundheits-Organisation festgelegte Kalorienmenge, um sieben Tage über die Runden zu kommen.

Die Kaputten, zu schwach, um zu stehen, geschweige denn zwölf Pfund schleppen zu können, liegen im Primary Health Care Center. Das ist ein pompöser Name für ein paar Hütten und Zelte, die als Sprechzimmer, Impfstelle, Apotheke und Isolationsabteilung für Kinder mit blutigem Stuhlgang dienen. Und als „Hospital“: die finsterste Hütte, gerade Platz bietend für eine Petroleumlampe, sieben Pritschen, sieben zerschlissene Moskitonetze und sieben leise seufzende Patienten, krank an Malaria, Hepatitis und Tuberkulose. Verwandte hocken auf dem Lehmboden.

„Vielleicht 45“, antwortet Pfleger Lueth auf meine Frage nach seinem Alter. Lueth vertritt die gerade auf Erschöpfungsurlaub befindliche Ärztin, eine Französin. Seine Geduld und seine auch bei 39 Grad Innentemperatur nicht schmelzende Menschenfreundlichkeit scheinen bemerkenswert.

Es kommt zu einer anstrengenden Szene. Lueth führt mich zur Lagerstatt von Munga, einer knapp fünfzigjährigen Frau, die an einer rektal-vaginalen Fistel leidet. Mit solchen Abszessen geschlagen – von den Hungerödemen an den Beinen einmal abgesehen –, wird jeder Stuhlgang zum Weg ins Fegefeuer. Das Rote Kreuz hat bereits über Funk „green light“ gegeben, um die Patientin im Krankenhaus von „Loki“ zu operieren. Ärzte ohne Grenzen ist bereit, die Transportkosten zu übernehmen.

3,6 kg Mais und ein Stück Seife

Dennoch, heute kommt Munga nicht weg: Vom Rollfeld erhält Lueth die Nachricht, dass ein gerade anwesender Pilot sich weigert, die Kranke einzuladen. Als Erklärung liefert er den so wahren, so unmenschlichen Satz: „She stinks.“

Jeden Samstag haben sie in Mapel „Welthungertag.“ Eric, der Cheflogistiker, beschreibt diese morgendlichen vier Stunden mit einer bildmächtigen Metapher: „Afrika sprudelt die Halsschlagader und wir reichen ein Pflaster.“ Und tausende von Müttern werden mit ihren Kindern antreten, um je 3,6 Kilogramm Mais und je ein Stück Seife zu erhalten. Jeder darf kommen, auch die, deren Skelette schon vor Wochen aus der Intensivstation entlassen wurden.

Alle Bilder werden irgendwann aus meinem Gedächtnis verschwinden, Bilder von bebender Angst, zu spät zu kommen, Bilder von trampelnden Horden, Bilder von Frauen, die sich schützend auf ihre Babys werfen, Bilder niedersausender Bambusrohre, die Hungernden einreden wollen, dass kein Anlass zur Panik besteht. Aber den jungen Akem werde ich nicht vergessen. Er versuchte, sich durch zwei Palisaden zu zwängen. Ein paar Meter von ihm entfernt lag der Mais. Aber er schaffte es nicht, der Dünne war nicht dünn genug. Auf seinem T-Shirt stand: „You don't deserve to win“ – du verdienst es nicht zu gewinnen.

WEN'S KÜMMERT: Hilfe im Sudan

Sudan: 36 Mio Einwohner. Lebenserwartung: 57 Jahre. Kindersterblichkeit: 107 von 1000 Kindern sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Seit 1983 kamen im Bürgerkrieg im Süden ca. zwei Millionen Menschen ums Leben, seit 2005 herrscht hier ein fragiler Frieden.Zweite Krisenregion ist die Westprovinz Darfur, wo laut UN allein in den vergangenen 18 Monaten 180.000 Zivilisten an Hunger und Krankheit starben.

Hilfe: Im Sudan sind zahlreiche Hilfsorganisationen aktiv – stellvertretend seien hier Caritas Socialis International und Ärzte ohne Grenzen angeführt. Spendenkonten: PSK 930 40 950, BLZ 60 000 (www.aerzte-ohne-grenzen.at). PSK 7.700 004, BLZ 60.000, Kennwort: Sudan (www.caritas.at)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2007)

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