Lissabon: Europop statt Fado

Am fluss. Am 8. Mai startet in der Metropole an der Tejo-Mündung der Song Contest.
Am fluss. Am 8. Mai startet in der Metropole an der Tejo-Mündung der Song Contest.(c) Visit Lisboa
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Lissabon ist Song-Contest-Metropole 2018. Am Ende des europäischen Kontinents gelegen, gilt die Stadt neuerdings als Lieblingsdestination des Städtetourismus. Die „vida lisboeta“ ist ob dieses Booms einem rasanten Wandel unterworfen.

Des siegreichen Auftretens von Salvador Sobral, des exzentrischen Aristokraten aus Portugal, beim Song Contest der Eurovision im Vorjahr bedurfte es nicht mehr, um Lissabon an die Spitze der europäischen Städtetrip-Destinationen zu hieven. Die portugiesische Hauptstadt, Hort der berühmten Saudade, Mittelpunkt eines verlorenen Weltreichs, einst in erster Linie als Fado-Hochburg bekannt, ist längst zum Hotspot für eine dynamische, kreative, jugendliche Besucherschar und damit zu einer Art von neuem Barcelona avanciert: In Rankings von Reisedestinationen belegt die Stadt einen Spitzenplatz, fast 13 Millionen Touristen pro Jahr (zuletzt konnte man ein jährliches Plus von über zwölf Prozent verzeichnen) zieht es in die Metropole unweit der Atlantikküste mit ihren pittoresken Hügeln, den Azulejo-Häusern und ihrem eigentümlich wehmütigen Charme.

Der Expo-Effekt. Eingeläutet wurde die Ära des neuen Lissabons Ende der 1990er-Jahre, als man ungewohnt selbstbewusst die Weltausstellung ausrichtete und für die Expo – wie heutzutage üblich – gleich ein ganzes Stadtviertel inklusive eines von Santiago Calatrava geplanten Bahnhofs aus dem Boden stampfte. Gerade rechtzeitig für den Millenniumssprung mauserte sich die entlegene, aus Brüssel für vielerlei Entwicklungsprojekte großzügig mit Geldmitteln bedachte Metropole zu einem Ort, der neue Aufmerksamkeit genoss. Auffällig deutlich äußerte sich das damals übrigens auch in der Zahl der in die Stadt ziehenden Erasmus-Studenten: Waren es Mitte der Neunzigerjahre noch wenige Dutzend gewesen, die an den etwas baufälligen Universidades um das Erlernen des Idioms mit seiner schwermütigen Melodie rangen, explodierte diese akademische Gastcommunity um die Jahrtausendwende dank des Expo-Effekts.

Beschwingt. Ein neuer ­Museumsbau ist das Museu de Arte, Arquitetura e Tecnologia.
Beschwingt. Ein neuer ­Museumsbau ist das Museu de Arte, Arquitetura e Tecnologia.(c) Photography Paulo Coelho Courtesy EDP Foundation

Begleitende Veränderungen der Konsumkultur stellten sich allmählich ein: Man musste, um frisches Basilikum zu bekommen (wie dies einst eine italienische Top-Köchin der Wochenzeitung „Espresso“ anvertraute), nicht mehr plündernd in den unweit der luxuriösen Avenida da Liberdade gelegenen botanischen Garten einsteigen, sondern fand das Kraut plötzlich in gut sortierten Filialen der Supermarktkette Pingo Doce vor. Als dann einige Jahre später unweit der Kulturstiftung des armenischen Multimillionärs Calouste Gulbenkian, wo sich mit dem Museu Gulbenkian auch eines der besten Kunstmuseen der Stadt befindet, eine Niederlassung der spanischen Ladenkette El Corte Inglés eröffnete, war der gehobene Mittelstand endgültig im Shoppinghimmel angekommen. Fast unnötig hinzuzufügen, dass man Bio-Babynahrung und makrobiotische Smoothies heute ohne größere Schwierigkeiten in der Stadt bekommen kann, die sich auch in dieser Hinsicht völlig standardisiert und Global-City-like gibt. Die Ära der Salgados und Tremoços, der salzigen, zu einem Glas Bier genossenen Lupinensamen, scheint vorüber.

Aus heutiger Sicht muten die Erinnerungen an die zuvor geschilderten Entwicklungen ohnehin an wie Schnee von vorgestern. Denn aus einstigen No-go-Zonen unweit der Unterstadt, der sogenannten Baixa, sind Flaniermeilen geworden, entlang derer die Touristen sich massenweise schieben und drängen. In den Vierteln Chiado, Bairro Alto, Mouraria, Alfama und Graça entfaltet sich längst eine galoppierende Gentrifizierung. Eine besonders auffällige Manifestation dieser Entwicklung ist der Mercado da Ribeira unweit des Zug- und Flussbahnhofs von Cais do Sodré. Von hier fahren Vorortzüge nach Estoril und Cascais, oder man gelangt auf die andere Seite des Tejo-Mündungsbeckens, wo etwa der Cristo Rei – eine kleinere Replik des Cristo Redentor in Rio de Janeiro – steht. Der Mercado da Ribeira hingegen, ein revitalisiertes Relikt des postindustriellen Zeitalters, ist eine von der Zeitschrift „Time Out“ gebrandete Anlaufstelle für Lissabon-Besucher auf der Suche nach dem Besonderen. Vielmehr dem „Besonderen“, denn vergleichbar anachronistisch anmutende Handwerkserzeugnisse wie die hier angebotenen gibt es mittlerweile an jeder Straßenecke zu kaufen.

Kunstplatz. Die Balcony Gallery gilt als interessante neue Adresse.
Kunstplatz. Die Balcony Gallery gilt als interessante neue Adresse. (c) courtesy Balcony Gallery

Latte statt Galão. Vor wenigen Jahren war die Boutique A Vida Portuguesa im Chiado, ein paar Schritte von der berühmten Pessoa-Statue entfernt, noch relativ allein mit ihrem Angebot an „produtos autênticos“: Man kennt das längst von anderswo, zu kaufen gibt es hier original portugiesische Seifen, original portugiesische Keramik, original portugiesische Águas de Colônia und sonst noch allerlei portugiesische Originale. Eigentlich bizarr, wie arglos Kunden über die Existenz völlig handelsüblicher Erzeugnisse zu staunen fähig sind. Doch gibt es dieses Staunen, man könnte es hierzulande als Spielart des Manufactum-Phänomens bezeichnen, mittlerweile so gut wie überall: Tradition fasziniert. Einheimische klagen derweil über die rasant steigenden Immobilienpreise und über das schrumpfende Angebot an Mietwohnungen auf dem ohnehin kleinen Markt. Wer eine Wohnung zu vermieten hat, womöglich noch zentrumsnah, der listet sie oft lieber auf Airbnb, als sich mit Langzeitmietern herumzuschlagen. Gebaut wird im Zentrum zwar viel, wie in anderen Metropolen drängt sich aber auch in Lissabon der Eindruck auf, dass in guter Lage hauptsächlich Luxusappartements und Oberklassehotels entstehen sollen. Ausgehöhlte Gebäude mit Azulejo-Fassaden, die stolz Richtung Tejo blicken, warten auf neue Bewohner, die allerdings mit dem alten Lissabon kaum mehr etwas zu tun haben.

Sie sind es auch, an die sich die Servicemitarbeiter in den wuchernden Tourismus-Hotspots fast ausschließlich auf Englisch wenden: Auch langjährige Bewohner der Stadt (oder etwas „untypisch“ aussehende Einheimische) werden kaum auf Portugiesisch angesprochen, wenn man ihnen den traditionellen Galão-Milchkaffee an einem der Quiosques der zahlreichen Miradouro-Aussichtspunkte nicht mehr im traditionellen Glas, sondern im Pappbecher und damit als getarnten Latte-to-go serviert. Man denkt bei dieser Sprachverwirrung nicht nur an Barcelona, sondern auch gleich an Berlin, wo man in Mitte-Cafés ja ebenfalls den Espresso lieber nicht auf Deutsch bestellt. Lissabon ist also in bester Gesellschaft.

Handwerk. Traditionell hergestellte Waren gibt es bei „A Vida Portuguesa“ zu kaufen.
Handwerk. Traditionell hergestellte Waren gibt es bei „A Vida Portuguesa“ zu kaufen.(c) Paulo Seabra

Ächzen hört man die verbleibenden Altmieter in Vierteln wie der Mouraria um das Castelo de São Jorge derweil auch über neue Arten der Fortbewegung durch die verwinkelten Gassen. Wo man mit Autos nicht durchkommt und auch die (von Touristen) überfüllten Elétricos, die zur Attraktion verkommenen traditionellen Straßenbahnen, nicht fahren, knattern motorisierte Tuk-Tuks an den Hauseingängen vorbei. Wo auch sie steckenbleiben oder wo es zu steil ist für die entbehrlichen Segway-Stehroller, sieht man polyglotte Führer Herden ihrer Schäfchen zu Fuß durch die Travessas treiben. Da glotzen manche Besucher dann leider distanzlos in ebenerdige Wohnzimmer (man denkt unweigerlich an die neapolitanischen Bassi): Gerade, dass man auf der Suche nach authentischen Souvenirs nicht die über die Straßen gespannten Wäscheleinen abgrast. Es verwundert also kaum, dass eine Homepage wie Lisboa-does-not-love.com als Pièce de résistance und letzte Bastion vor dem überhandnehmenden Massentourismus ins Leben gerufen wurde. Die anonymen Betreiber präsentieren die unangenehmsten Auswirkungen des Tourismusbooms auf das Alltagsleben und bieten etwa Sticker mit durchgestrichenen Segways und Tuk-Tuks zum Download an.

Madonna oder Amália? Nun ist das etwas behäbige Lissabon in den vergangenen Jahren also unter der letzten untergehenden Sonne des Kontinents zu einer anderen Stadt geworden, und die Konzentration von ausschließlich für Touristen ersonnenen Erlebnis- und Shoppingangeboten ist mancherorts fast bekümmernd. Es ist aber nicht aller Tage Abend. In der Kunstszene etwa freut man sich über die neue Aufmerksamkeit, die der Stadt auf internationaler Ebene nun zuteilwird, und versucht, diese durch strategische Messeauftritte zu Kapital zu machen. Die Madrider Arco-Kunstmesse hat einen Ableger nach Lissabon gebracht, und in den vergangenen Jahren eröffneten einige neue Galerien. Im etwas zentrumsferneren Alvalade-Viertel ist etwa seit Ende 2017 die Balcony zu finden, die ebenso interessante wie Instagram-kompatible Kunstpositionen vertritt.

Expo 1998. Der Bau des Parque das Nações ­läutete das neue Lissabon ein.
Expo 1998. Der Bau des Parque das Nações ­läutete das neue Lissabon ein.(c) Visit Lisboa

Eine neue Museumsadresse ist indessen das Ende 2016 eröffnete Museu de Arte, Arquitetura e Tecnologia: ein ansprechender Bau von Amanda Levete, direkt am Tejo zwischen Lissabon und Belém gelegen (wohin es Besucher üblicherweise auf der Suche nach den ursprünglichsten aller Pastéis de Nata zieht). Auch das Designmuseum Mude in der Unterstadt, wenige Meter von der einst als schönster Platz Europas geltenden Praça do Comércio entfernt, ist einen Besuch wert. Derzeit wird es allerdings umgebaut, mit dem Ausstellungsprogramm weicht man nach Belém aus.

Eine Bootsfahrt vom Cais do Sodré nach Cacilhas offeriert einen ebenso schönen Blick zurück nach Lissabon wie immer schon; die Sonne strahlt noch immer über dem Küstenstreifen der Costa da Caparica auf der anderen Seite des Tejo; ein Spaziergang zum verwunschenen Palácio da Pena bei Sintra ist noch immer eine wunderschöne Erfahrung, und in der Confeitaria nacional an der Praça da Figueira bekommt man seinen Galão dann doch noch im Glas (und auf Portugiesisch) serviert.

Über eine neue Attraktion in der Stadt können sich außerdem eingefleischte Popfans freuen, selbst wenn man nicht weiß, ob sie von Dauer sein wird. Seit wenigen Monaten wohnt nämlich Madonna – die amerikanische Sängerin und nicht etwa die Wunder wirkende Nossa Senhora de Fátima – in einem historischen Stadthaus schräg gegenüber des Museu Nacional de Arte Antiga an der Rua das Janelas Verdes. Wer sich also nicht zum Grab der legendären Amália Rodrigues am Cemitério-dos-Prazeres-Friedhof aufmachen möchte, kann vor dem Palácio Ramalhete dieser lebenden Legende huldigen. Mit Amálias Schwester hat Madonna übrigens schon ein Ständchen in ihrem Instagram-Account zum Besten gegeben. Und vielleicht liefert sie ja einen Überraschungsauftritt beim Song Contest in Lissabon.

Kunst: Das Museum der Fundação Gulbenkian an der Avenida de Berna, www.gulbenkian.pt

Das MAAT liegt zwischen Lissabon und Belém, www.maat.pt

Die Balcony Gallery befindet sich nördlich der Baixa in Alvalade, www.balcony.pt

Kommerz: Mercado da Ribeira, www.timeoutmarket.com

Musik: Neuralgisches Zentrum des Song Contests ist ab 8. Mai die Praça do Comércio, www.eurovision.de

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