„Es darf keine weiteren Morde geben“

Am Sonntag jährt sich die Ermordung der russischen Journalistin Anna Polikowskaja zum ersten Mal.

Als Anna Politkowskaja ermordet wurde, habe ich drei Tage lang nicht geschlafen. Seit 15 Jahren war ich mit ihr befreundet, und ihr Verlust war für mich eine persönliche Tragödie. Ständig wurde ich angerufen, Tag und Nacht, aus verschiedenen Ländern, von Freunden oder zufälligen Bekannten. Sie weinten und sprachen davon, dass das ein großes Unglück ist. Eine der Ersten, die mich anriefen, war Miroslawa Gongadse aus Washington, die Witwe des ukrainischen Journalisten Georgi Gongadse, der vor sieben Jahren ermordet wurde. Sie schluchzte und fragte unter Tränen: „Wann hört das denn endlich auf?“

Danach sagte Präsident Putin in Dresden, dass der Mord an Politkowskaja kein bedeutendes Ereignis sei, niemand habe sie gekannt. Der Zynismus des Präsidenten empörte die Leute, aber das änderte das Verhältnis zum Präsidenten und zum Mord an der Journalistin in Russland selbst nicht.

Über 100 Tage gab es in vielen europäischen Ländern Aktionen zur Erinnerung an Anna Politkowskaja, in Finnland, Deutschland und Frankreich gingen tausende Menschen auf die Straße. In Moskau kamen zum Gedenken etwas mehr als 100 Menschen. Das war eine Enttäuschung.

Aber das war auch ein Sieg. Als am 25.August 1968 acht sowjetische Dissidenten mit Plakaten auf den Roten Platz zogen und gegen den Einmarsch sowjetischer Streitkräfte in der Tschechoslowakei protestierten, glaubte in der Sowjetunion niemand, dass das möglich sei. Sie wurden verhaftet und in sowjetische Lager geschickt. Aber diese große Tat der Andersdenkenden war nicht die letzte. Nach ihnen gingen andere auf die Straße, man schickte sie in Gefängnisse, aber der Widerstand wuchs.

Als im August 1991 tausende von Menschen auf die Straßen von Moskau gingen, um Boris Jelzin zu unterstützen, schien es vielen, dass in Russland eine Zivilgesellschaft entstehe. Nach einiger Zeit wurde klar, dass die Freude verfrüht war. Wie bisher meint ein Großteil der Russen, dass Russland keine demokratischen Werte brauche. So ist es bequem zu leben, wenn alle dem Zaren glauben, dem Guten und Gerechten. Und wenn er Rechte von jemandem verletzt, dann ist das nicht schlimm.

Damals, in den ersten Tagen nach dem Mord an Anna hatte ich Angst, dass die russischen Journalisten so viel Angst haben, dass sie versuchen, ihren Namen schnell zu vergessen. Aber selbst unter den Bedingungen der totalen Kontrolle über das Fernsehen und die gesellschaftlichen Organisationen und unter der Allmacht des Geheimdienstes in Russland, hört man manchmal die schüchterne Stimme des Protestes. Sie ist wie ein Keim einer schwachen Pflanze, die zur Sonne strebt. Aber es gibt immer die Gefahr, dass der Stiefel des Polizisten oder des FSB-Offiziers ihn in die Erde drückt.

Gibt es eine russische Zivilgesellschaft?

Als Anna ermordet wurde, war eine aktuelle, aber nicht populäre Frage: Gibt es in Russland eine Zivilgesellschaft, und braucht man sie überhaupt? Wie lange werden die Gesellschaft und die Journalisten die Gewalt gegen das freie Wort erdulden? Wird es Widerstand geben?

Ich weiß keine Antwort auf diese Frage. In Russland gab es nie die Tradition des freien Wortes, weder in der Zarenzeit noch in den Jahren der sowjetischen Macht. Aber ich weiß bestimmt, das es Widerstand und Kampf für die eigenen Rechte nur dann geben wird, wenn es dafür eine Notwendigkeit gibt. Ich will nicht, dass andere Journalisten ermordet werden. Ich möchte, dass russische Journalisten auf die Straße gehen und allen sagen, nicht nur der Macht, sondern insbesondere der schlafenden Gesellschaft: „Ihr zerstört euer Gewissen.“ Es darf keine weiteren Morde geben!

Oleg Panfilov ist Direktor des „Zentrums für Journalismus unter extremen Bedingungen“, einem Netzwerk für Journalisten in GUS-Staaten. Übersetzung: Ulrich Heyden.


meinung@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.10.2007)

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