Lasst uns doch einfach beides sein!

Statt immer wieder zu versuchen, das Migrantische an den Einwanderern zu vertuschen, die Migranten zu assimilieren oder ihnen mit Mitleid zu begegnen, sollten wir einmal sagen: Hey, ist doch gut, ein Migrant zu sein!

Das und macht den Unterschied. Sie ist Deutsche und Türkin. Er ist Österreicher und Serbe. Sie sind beides. Das macht sie reich, nicht arm. Und die Gesellschaft mit ihnen.

In 26 Interviews habe ich 26 Mal dieselbe Reaktion erlebt: ein Lächeln. Ein dankbares Lächeln. Dafür, etwas auszusprechen, was undenkbar scheint: die vermischte Identität. Die Antwort auf meine Nachfrage lautete in Deutschland wie in Österreich gleich: „Ja, in Wahrheit bin ich beides.“ Und dann: Lächeln, als sei etwas gewonnen.

Deutschland scheint dieses Konzept eigentlich verstanden zu haben. 2014 änderte es das Staatsangehörigkeitsgesetz und schaffte die „Pflicht, sich zu entscheiden“ (Optionspflicht) für seine zahlreichsten Migrantenkinder ab. Also jene der Türken. Kinder von EU-Bürgern durften den Doppelpass ja längst haben, sodann konnten endlich auch Deutschtürken wahrhaft Deutschtürken sein – ohne mit 21 Jahren einen Teil von sich „verraten“ zu müssen.

Zurück zur Optionspflicht

Auf der Website des deutschen Innenministeriums heißt es dazu: „Es soll der besonderen Situation der in Deutschland mit mehreren Staatsbürgerschaften aufgewachsenen Ius-soli-Deutschen Rechnung getragen werden.“

Wie habe ich ein Loblied darauf gesungen. Deutschland erkennt nicht nur das Geburtsrecht an (ius soli), nein, es sieht auch einen Wert im „Aufgewachsensein“. Es lädt seine Kinder ein, deutsch zu sein. Und verlangt keine Exklusivität als Gegenleistung.

Tja, und nun das. Eine knappe Mehrheit der CDU will zurück zur Optionspflicht. Sie will, dass sich Migrantenkinder entscheiden. Und meint damit: Man ist entweder für Deutschland oder für Erdoğan. Hallo, Populismus!

Mir wird schwindelig vom Augenverdrehen. Da plädiere ich für deutsche Staatsbürgerschaftsverhältnisse in Österreich und werbe hier fleißig für das Geburtsrecht, um künstlicher Verfremdung von hier geborenen Kindern entgegenzuwirken, und dann schlägt mir das Gegenteil ins Gesicht. Die junge Union der CDU (Merkel nicht) will quasi österreichische Verhältnisse in Deutschland. Der Pass soll zur Krönung der Migrationsbiografie werden – mindestens zum Integrationsbeweis.

Dabei geht es bei Integration nicht immer nur um Erdoğan-Fans, Burkinis oder radikalisierte Jugendliche. Es geht oft sehr unspektakulär um junge Menschen, die sich identifizieren wollen. Deren Lebensrealität aber komplex ist – weil sie Migranten sind.

Migranten als Vermittler

Statt stets zu versuchen, das Migrantische am Migranten zu vertuschen, zu assimilieren oder ihm mit Mitleid zu begegnen, sollten wir einmal sagen: Hey, ist doch gut, ein Migrant zu sein! Denn ein Migrant, vor allem zweiter und dritter Generation, kann etwas, was in Zeiten von Globalisierung, Flucht und Migration nicht jeder kann: Er kann übersetzen und vermitteln. Denn er ist typisch und untypisch zugleich, nicht einheitlich, sondern gemischt. Nicht säuberlich in zwei Hälften filetiert, sondern widersprüchlich in sich faschiert. Sowohl als auch, statt weder noch.

Ein Migrant ist Übersetzer, weil er zwei Heimaten besitzt, zwei Sprachen spricht, weil er Wurzeln dort hat und gleichzeitig hier verwurzelt ist. Er mag zerrissen sein (muss es nicht), doch er ist reich. Als Migrant kann er Deutscher sein und mehr. Er steht in Poleposition. Aber das verschweigen wir erfolgreich und verklickern ihm das Gegenteil. Zumal die doppelte Staatsbürgerschaft ja auch ungerecht allen Einheimischen gegenüber ist.

So wird die Identität zur Gretchenfrage. Im ewigen Kreuzverhör versuchen sich migrantische Jugendliche aufzuteilen und zuzuordnen. Ihre Identitätskrise ist programmiert. Ich habe viele gefragt, die meisten unterscheiden eine Papieridentität von einer im Herzen. Ein „einfacher“ Pass beugt also nicht vor. Man kann sehr gut auf dem Papier Österreicher sein und voller Inbrunst Erdoğan-Fahnen schwenken. Was dagegen hilft, ist eine andere Frage. Aber die Antwort liegt nicht in der Ablehnung des Doppelpasses. Im Gegenteil.

Austrotürke will keiner sein

Der Doppelpass ist ein Bekenntnis zur Lebensrealität von Migranten – und zu unserer sich vermischenden Welt. Er lehnt nicht mit Vorbehalt ab, sondern lädt dazu ein, Übersetzer zu sein. Nach dem deutschen Modell erhalten Kinder von Migranten per Geburtsrecht die Staatsbürgerschaft (unter gewissen Bedingungen). Interessanterweise fühlen sich in Deutschland junge Migranten der zweiten Generation auch stärker Deutschland zugehörig als österreichische Österreich. Sie identifizieren sich. Das wird statistisch von einer europaweiten Studie belegt. Auch meine Masterthesis dazu an der Uni Wien bestätigt dies.

Ich habe mit Migranten der zweiten Generation in Deutschland und Österreich gesprochen und sie gefragt, wie sie zum Land ihrer Geburt und Staatsbürgerschaft stehen. Sie waren zwischen 15 und 36 Jahren, etabliert, studierten, absolvierten ein Praktikum oder waren im Job verankert. Ich wollte wissen: Bist du Deutsche(r)? Bist du Österreicher(in)? In Deutschland erhielt ich eine Antwort, in Österreich eine Alternative.

Wer sich als „Deutsche(r)“ bezeichnete, ergänzte meist ein „und“. „Ich bin Deutscher und Syrer.“ „Ich bin Deutschtürke.“ Beides eben. In Österreich war man Wiener, Weltbürger oder weder noch. Austrotürke wollte keiner sein. Beides schien keine Option. Nur als Lächeln später, als ich nachfragte. Es scheint schwer genug, Österreicher zu sein: „Und wenn ich gesagt habe, dass ich Österreicherin bin, dann waren die Leute nicht zufrieden – es gibt keine Akzeptanz, dass Österreicher auch anders aussehen können und andere Namen haben.“ Wer im Callcenter-Job von Merve zur Julia umgetauft wird, der fühlt sich nicht daheim im eigenen Land.

Wer nicht willkommen ist . . .

Wie reagiert man darauf? Man lehnt selbst ab. Wer nicht willkommen ist, will auch nicht dazugehören. Re-Identifikation mit der Herkunftskultur, Konstruktion stärkerer Gegenidentitäten, Wiederaufleben eines kulturellen Traditionalismus nennt das die Wissenschaft.

Und man umgibt sich mit Menschen, die solche Erfahrungen teilen. Migranten haben oft Migranten zu Freunden – Anderssein verbindet. „Ich fühle mich wohl bei Freunden, deren Eltern auch von irgendwo sind. Die auch nicht wissen, woher sie wirklich sind. Die die Frage kennen: Lange oder kurze Version?“

Die Frage der Zugehörigkeit wird wohl nicht durch Passpolitik gelöst. Hier sind Schulen, Institutionen, Medien, ja wir alle gefragt. Aber Politik kann ein Zeichen setzen. Von oben. Ein Zeichen, das sagt: Wir wollen dich, so wie du bist. Wir wollen deine Heimat sein. Und wir verstehen dein Zugehörigkeitsgefühl nicht als Kuchen, bei dem jedes Stück auf Kosten des Rests verdaut wird. Identität ist die erste Frage von Integration. Wer sich zugehörig fühlt, fühlt sich wohl. Also lasst uns doch einfach beides sein!

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DIE AUTORIN



Delna Antia
lebt seit acht Jahren in Wien und ist stv. Chefredakteurin des Ethnomagazins „Das Biber“. Sie hat in Deutschland Philosophie studiert und European Studies an der Uni Wien. Sie besitzt die deutsche und die britische Staatsbürgerschaft und bezeichnet sich selbst als eine Mischung aus Oberhausen und Bombay. Ihre Mutter stammt aus dem Ruhrgebiet, ihr Vater ist Parsi aus Indien. [ Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.12.2016)

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