Vergebliches Hoffen auf ein rascheres Wachstum

Die Zeiten des unaufhörlichen Rekordwachstums sind vorbei. "More of the same" kann nicht mehr der Erfolgsmaßstab sein.

Weltweit, vor allem aber in der Europäischen Union, warten die Bürger ungeduldig auf eine Belebung des Wachstums und wenden sich zunehmend von den Politikern ab, die diese Erwartungen nicht erfüllen (können). Zwar flutet die Geldpolitik die Welt mit Liquidität, während die EU eine (bescheidene) Investitionsinitiative nach der anderen verspricht und so langsam sogar von ihrer problematischen Austeritätspolitik abrückt.

Aber alles verpufft – die Stagnation hält an. Populisten aus dem rechten und dem linken Lager versprechen eine Renaissance der guten alten Zeit und haben damit Hochkonjunktur. Politiker und sonstige Auguren glauben zwar immer wieder, Keime eines Aufschwungs sehen zu können, und schüren diesbezügliche Hoffnungen – für das jeweils nächste Jahr. Der Erfolg bleibt aus. Und die Verunsicherung der Bevölkerung steigt weiter, nicht zuletzt als Folge der enttäuschten Hoffnungen. An Erklärungen der Ursachen der nun schon länger andauernden Wachstumsschwäche mangelt es dabei keineswegs, nur überzeugend wirkt keine davon.

Kein Wachstum mehr wie einst

Hängt der Erklärungsnotstand vielleicht damit zusammen, dass es die medial hochgespielte „Wachstumskrise“ gar nicht gibt? Könnte es nicht sein, dass wir auf das erlösende Wachstum warten wie Estragon und Wladimir auf Godot, der bekanntlich nie erschien, weil es ihn vermutlich gar nicht gibt?

Könnte es nicht sein, dass wir uns von der Vorstellung verabschieden müssen, dass es den Kindern unbedingt „besser gehen müsse“, besser im Sinn der Verfügbarkeit von mehr Konsumgütern, und den Enkeln nochmals besser?

Tatsache ist: Die Wachstumsraten der Vergangenheit sind heute nicht mehr erreichbar. Die relativ lange Periode aufholbedingt raschen Wachstums in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat übertriebene Vorstellungen über das längerfristig mögliche Wachstum entstehen lassen.

Die historische Erfahrung zeigt, dass Pro-Kopf-Wachstumsraten von mehr als eineinhalb bis zwei Prozent selten sind. Rascher können Länder nur dann wachsen, wenn sie von anderswo entwickelten Technologien profitierten: Deutschland von England (1870−1913), die Vereinigten Staaten von Europa (1870−1913), Europa von den USA nach Weltwirtschaftskrise und zwei Weltkriegen (1950−1973) und Osteuropa vom Westen nach seiner Öffnung (2001−2013).

Österreich ist durch die hohen Wachstumsraten der Vergangenheit besonders verwöhnt. Mehr noch als andere Länder wähnte es sich auf der Überholspur. Im Aufholprozess bis um die Mitte der 1970er-Jahre wuchs es tatsächlich mit jährlichen Raten von fast fünf Prozent. Zwar sanken diese in der Folge, erreichten aber bis 2007 immerhin noch gut zweieinhalb Prozent.

Maßgebend für das noch immer rasche Wachstum waren Sonderfaktoren wie Integration, Ostöffnung und Österreichs Partizipation an dem ungesunden Boom der „Roaring Tens“ 2000 bis 2007, der mit einer gewissen Zwangsläufigkeit in die Finanzkrise mündete. Die für Österreichs „Überholspur“ maßgebenden Impulse sind inzwischen allerdings ausgelaufen.

Wir werden uns auf Wachstumsraten um die eineinhalb Prozent pro Kopf einstellen müssen. Kurzfristig sind wegen der unausgelasteten personellen und maschinellen Kapazitäten höhere Raten möglich. Österreich wächst derzeit pro Kopf nämlich bloß mit etwa 0,5 Prozent (1,5 Prozent minus ein Prozent Bevölkerungswachstum). Wachstumsbegrenzend wirkt kurzfristig die unzureichende Konsum-, Investitions- und Auslandsnachfrage.

Österreichs Strukturprobleme

Die Konsumnachfrage leidet unter der schwachen Entwicklung der Nettoeinkommen, die Investitionen leiden unter der unzureichenden Kapazitätsauslastung und dem geringen Wachstum. Denn bei Wachstumsraten von ein bis zwei Prozent reicht der Kapazitätseffekt der Ersatzinvestitionen aus, es bedarf keiner Erweiterungsinvestitionen.

Die erforderlichen Investitionen in Innovationen jedoch schwächeln als Folge der Unsicherheit: Die Firmen verwenden ihre Gewinne lieber, um eigene Aktien zurückzukaufen (ziehen sich von der Börse zurück) oder kaufen andere Firmen (was keine zusätzliche Nachfrage schafft). Die Auslandsnachfrage schließlich ist als Folge der österreichischen Strukturprobleme schwach: Wir exportieren nicht bloß auf wenig wachsende Märkte, sondern wir verlieren auf diesen überdies Marktanteile.

Was folgt aus dieser Analyse? Wir müssen unsere Einstellungen ändern. Die Nachfrageschwäche könnte durch öffentliche Investitionen in die materielle und vor allem die immaterielle Infrastruktur relativ leicht überwunden werden – das Argument der Belastung künftiger Generationen zieht nicht, weil ja gerade sie von diesen Investitionen profitieren würden.

Wachstumsideologie – ade!

Die Strukturprobleme sind ernster, weil sie unser Wachstum auch in Zukunft unter dem ohnedies langsamen Wachstumspfad halten könnten. Natürlich bedarf es zur Strukturverbesserung der üblichen Stimulanzien für Forschung, Innovation, Ausbildung etc. Wichtiger aber wäre die Überwindung der verunsichernden psychologischen Folgen der kontinuierlich enttäuschten Wachstumserwartungen. Unternehmer wie Konsumenten müssen sich von der ins Subjektive gewendeten Wachstumsideologie verabschieden, der Erwartung, dass Umsatz und Gewinn einerseits, Einkommen und Kaufkraft andererseits von Jahr zu Jahr zwangsläufig steigen.

Der Wohlstand wird zwar auch bei eineinhalb Prozent Wachstum zunehmen, aber weniger in Form weiter gesteigerter Käufe von Konsumgütern als in Form höherer Lebenserwartung, besserer Gesundheit und höherer Bildung.

Das niedrige Wachstum wird die Wirtschaftspolitik weiters mit dem Problem der Sicherung eines hohen Beschäftigungsgrades konfrontieren. Die wichtigste Maßnahme wird wohl eine Senkung der Abgabenbelastung der Arbeit sein, um die kontinuierliche Substituierung von Arbeit durch Kapital („Rationalisierung“) weniger zwingend und weniger rentabel zu machen; eine budgetneutrale Kompensation des Abgabenausfalls durch Steuern auf Kapital könnte die Beschäftigungswirkung verdoppeln.

Innovative Arbeitszeitmodelle

Vermutlich wird man aber auch um Elemente einer Arbeitszeitverkürzung, vor allem in Form innovativer Lebensarbeitszeit-Modelle, nicht herumkommen. Entscheidend jedoch wird sein, dass alle Beteiligten davon überzeugt werden, dass die Periode historisch ungewöhnlich raschen Wachstums endgültig vorbei ist, dass „more of the same“ nicht mehr der Erfolgsmaßstab sein kann.

Nur wenn sich alle darauf einstellen, kann die destruktive Unsicherheit überwunden werden, die aus der kontinuierlich enttäuschten Hoffnung auf Rückkehr zu den Wachstumsraten der guten alten Zeit entstanden ist und die derzeit jedes Jahr von Neuem entsteht.

DER AUTOR

E-Mails an:debatte@diepresse.com

Univ.-Prof. Gunther Tichy
(*1937 in Wien) studierte Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre an der Uni Wien. Von 1978 bis 1997 war er Professor für Volkswirtschaftslehre an der Karl-Franzens-Universität Graz. Langjähriger Konsulent des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo). Forschungsschwerpunkt: Bedeutung
der Unsicherheit für die Wirtschaftsentwicklung und -politik. Zahlreiche Publikationen. [ Archiv]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.12.2016)

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