Die Reinszenierung des Überlebens

Österreich fehlt eine Einrichtung, die mithilft, die Leute gegen Krieg und Diktatur zu immunisieren.

Nach dem Abgang von Minister Josef Ostermayer wurde das lang öffentlich diskutierte und gut vorbereitete Haus der Geschichte auf drei Räume in der Neuen Burg am Heldenplatz reduziert. Die exzessive Rittersammlung wird nicht angetastet. Allein im Stockwerk unter der Sammlung alter Musikinstrumente wird es eine zweijährige Sonderausstellung zu den Republiksfeierlichkeiten geben. Sonst ist für die Zukunft irgendwann ein Neubau im Gespräch.

Das war's dann also? Keine Abteilung zum Zweiten Weltkrieg beziehungsweise zur nationalsozialistischen Diktatur? Sollen die entsprechende Abteilung im Heeresgeschichtlichen Museum voller Nazi-Uniformen und Waffen, ein paar Hinweise im Wiener Jüdischen Museum, das Shoah-Denkmal von Rachel Whiteread und die Einzelausstellung des Shoah-Überlebenden Adolf Frankl die einzigen „Bearbeitungen“ des Holocaust sein? Keine wissenschaftlich fundierte Abteilung, integriert in ein Haus der Geschichte?

Dabei gehört zur Geschichte Österreichs nach 1918 dieser Teil eindeutig dazu. Das Münchner NS-Dokumentationszentrum ist zum Beispiel ein staubtrockenes Museum, ein Täterort. Die Jugendlichen und selbst die Aufpasser sind wie erschlagen von der schieren Fülle und Gewalt des Materials zur NS-Zeit. Bei der heutigen Tendenz von Rechtspopulisten, einen angeblich drohenden Bürgerkrieg als Köderthema zu missbrauchen, wäre ein Schauplatz dieser Art wichtig für eine Immunisierung.

Folgen des Krieges

Für die zweite beziehungsweise dritte Generation nach dem Zweiten Weltkrieg ist dieser überhaupt nicht gar so weit weg in der Geschichte, sondern gehört noch zur Familie. Als „Reinszenierung von Überleben“ beschreibt die Buchautorin Anne-Ev Ustorf eine Strategie, um mit Kriegserlebnissen fertigwerden zu können. Sie nennt in ihrem Buch „Wir Kinder der Kriegskinder“ Armut, eingeimpfte Sparsamkeit oder häufige Umzüge als Symptome unbewusster Folgen des Krieges. Dass man knapp überlebt hat, wird im Alltag immer wieder reinszeniert, um die darunterliegenden Emotionen zu verarbeiten, frei flottierende Gefühle festzumachen.

„Invasion“ der Flüchtlinge

An mir als Kind zweier Kriegskinder (wie die meisten der zwischen 1955 und 1975 Geborenen) ist der Zweite Weltkrieg noch ziemlich nahe dran. Sei es nur, weil meine Mutter sich ständig vor Erdbeben fürchtete, bis wir bei der Schriftstellerin Veza Canetti eine Stelle fanden, wonach Erdbebenangst immer mit Kriegsangst zu tun habe. Denn ein kleines Kind kann sich den Krieg, die Geräusche und das Wackeln des Hauses nicht anders erklären.

1945 war jeder zweite Deutsche auf der Flucht. Der Mechanismus einer „Reinszenierung von Überleben“ könnte auch erklären, warum so viele Menschen in der aktuellen Flüchtlingskrise glauben, es ginge für sie selbst um Leben und Tod: Die Europäer seien in Wahrheit die Opfer – einer „Invasion“ der Kriegsflüchtlinge.

In den sozialen Medien wird ein einheitliches „Flüchtlingsvolk“ beziehungsweise ein „Volk der Muslime“ imaginiert, das das „deutsche Volk“ vernichten will. „Der Faschismus wird durch den Rechtsextremismus oder durch die muslimischen Flüchtlinge siegen“, schrieb ein Poster. „Nein, der Faschismus wird nicht siegen“, schrieb ein anderer zurück, „egal, wie viele Flüchtlinge man noch in den Topf des Faschismus tunkt.“ Je mehr Tote es real in Europa durch Anschläge gibt, desto stärker wird dieser verdrehte Reinszenierungs-Mechanismus werden.

Kerstin Kellermann ist freie Journalistin

in Wien. Unter anderem schreibt sie

regelmäßig für die Obdachlosenzeitung „Augustin“.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2017)

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