Gastkommentar

Am Boulevard: Quote durch Tote

„Unsere tägliche Mordgeschichte gib uns heute“ ist das Motto von Gratisblättern; es lockt viele junge Leser.

Die Tageszeitungs „Österreich“ lebt von Morden, Totschlag und Autounfällen. Aber niemals wird den Lesern auch eine Verarbeitung der tödlichen Dosis angeboten.

Warum aber lesen so viele Jugendliche und sogar Schulkinder Gratiszeitungen? Die Gratiszeitungen, aber auch die „Kronenzeitung“ scheinen Bedürfnisse zu stillen, die als solche öffentlich gar nicht wahrgenommen werden. Hier kommen die Leser nämlich selber vor: Über Betroffene der Migration in mehreren Generationen wird in tausenden kleinen Alltagsgeschichten berichtet. Zwar geschieht dies zumeist auf abschreckende Art und Weise, aber zumindest gibt es handelnde Personen in dieser Story. Verquere Helden, die kriminell sind oder anstrengend – aber nichtsdestotrotz Heldengeschichten.

Das Schlimme ist aber, dass ständig Überschriften und Artikel zum Thema Mord, Totschlag oder Autounfall vorkommen, die böse Erinnerungen und Gefühle auslösen. Oft kommen ganze Serien wie etwa über das „Mordrätsel“ einer „schönen Mutter“. Bei Durchsicht der Tageszeitung „Österreich“ an 20 Tagen im April 2017 zeigte sich, dass nur ein einziges Cover nicht vom Thema „Tod“ handelte. In der zweiten Titelgeschichte ging es oft um Vergewaltigung.

Das Blut muss fließen

Eine heftige, extreme Dosis von Todesfällen, die auf keine Weise erklärt oder ansatzweise „verarbeitet“ wird. Erstaunlich ist auch, wie viele junge Leute vorkommen: „139 potenzielle Extremisten jünger als 25 Jahre“, alle möglichen 17-, 18- und 19-Jährigen, die sich mit dem Auto duellieren; oder jugendliche Asylwerber zwischen 14 und 17 – Afghanen, deren Kriminalität angeblich „explodiert“; und „41 Prozent der jugendlichen Asylwerber lügen“.

Auch in anderen Artikeln in „Österreich“ kommen immer wieder Anspielungen auf den Tod vor: „Waxing Lady: Das ist Leichenschändung“, „Blutbad“, „Bettler-Terror“, „Verdacht auf Ehrenmord“ – das Blatt scheint erfolgreich mit solchen Geschichten Auflage und Geld zu machen. Wer interessiert sich nicht für den Tod anderer Menschen? Aber auf diese Weise?

Spannung, Dramatik, Gruseln

Viele bleiben nach der Lektüre betroffen zurück. Dennoch greifen sie in der Früh „süchtig“ nach den Gratiszeitungen. Denn wer will dieses Rätsel nicht lösen: Warum Menschen andere Menschen umbringen? Kinder und Jugendliche versuchen zu verstehen, was in der Gesellschaft vor sich geht. Dazu kommt ein Wunsch nach Spannung, Dramatik und Gruseln. „Unsere tägliche Mordgeschichte gib uns heute“: dieses Motto der Gratiszeitungen trifft sich mit den Interessen von Jugendlichen, die starke Emotionen brauchen.

In Zukunft selbst entscheiden und verantwortlich handeln – viele zögern an dieser Schwelle. Hier helfen offenbar Gratiszeitungen. Persönlich habe ich schon einem Achtjährigen eine „Österreich“-Zeitung mit der Schlagzeile „Mutter ermordet ihre drei Kinder“ abgenommen. Schulkinder kriegen schlechte Gefühle und wenn sie die Zeitung im Anschluss erleichtert wegwerfen, „kübeln“ sie ihre Trauer und ihren Zorn über die Zustände gleich mit.

In vielen Schulklassen gibt es im Moment syrische Flüchtlingskinder, daher setzen sich schon die Kleinen mit dem Thema Krieg und Tod auseinander. Es bleibt das Unverständnis, das ihnen selten jemand etwas erklärt über diese wirklich wichtigen und aktuellen Themen in der Gesellschaft.

Kerstin Kellermann ist freie Journalistin in Wien. Unter anderem schreibt sie für die Obdachlosenzeitung „Augustin“.

Thomas Chorherrs an dieser Stelle 14-tägig erscheinende Kolumne „Merk's Wien“
kann aus krankheitsgründen vorübergehend nicht veröffentlicht werden.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.07.2017)

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