Spiegelschrift

Die Weltpolitik drängt in den Vordergrund

Jenseits des Tellerrands. Während sich die Regierung im Reformeifer vergräbt, dreht sich die Welt weiter. Auch Österreich möchte mitmischen.

Draußen geht es wilder zu als im türkis-blauen Gehege. Erst vor Kurzem versetzte Nordkorea die Welt in Atomkriegsangst, aber seit ein paar Tagen verwandelt sich eine bisher für irreal gehaltene Friedenshoffnung geradezu in Wundergläubigkeit. Können zwei unberechenbare Charaktere wie der nordkoreanische Diktator, Kim Jong-un, und US-Präsident Donald Trump ein Friedenspaket erarbeiten?

Oder werden wenigstens Kim und Südkoreas Präsident Moon Jae-in den seit Jahrzehnten eingefrorenen Kriegszustand zwischen Nord und Süd in den Auftaumodus versetzen? Die „Presse am Sonntag“ bringt die Botschaft der Realisten von der Demarkationslinie nach Wien (22. 4.): „Auf das Beste hoffen, aber auf das Allerärgste vorbereitet sein.“ Denn der Pokerspieler Kim hat außer den Atomwaffen weitere Trümpfe in der Hand, wie der Titel der Reportage lautet. Schon gestern haben Süd- und Nordkoreas Staatschefs in Panmunjom ihre Möglichkeiten erfolgsversprechend getestet.

Die heutige Generation der Erwachsenen hat in ihrer Lebenszeit mindestens vier Wunder erlebt, die eine angeblich unlösbare Situation bereinigten: das Ende der Rassentrennung in Südafrika (1994), die förmliche Beilegung des Nordirlandkonflikts (Karfreitagsabkommen 1998), den Kollaps der Sowjetdiktatur in Osteuropa und in Russland 1989/1991 sowie die Wiederherstellung der deutschen Einheit (1990). Es gibt also wirklich Wunder, bloß in Korea und im Nahen Osten mangelt es bisher an Friedenswillen.

Auch die Europäische Union sollte sich, wie der französische Staatspräsident, Emmanuel Macron, fordert, einer Vitalitätskur unterziehen. In Kenntnis der europäischen Vielfalt sollte man allerdings besser nicht auf Wunder warten. Es würde genügen, wenn auf einer soliden Arbeitsleistung aufgebaut wird.

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„Was Trump in China vor hat“, lautet ein Titel (15. 4.). Etwas vorhaben schreibt man zusammen.

Mitunter verwandelt sich die nähere Außenwelt schneller, als Journalisten mitbekommen. In einer Reportage über die „Meister des Wiener Beinschinkens“ schreibt die Zeitung: „Seit 1860 gibt es das Familienunternehmen (Thum-Schinken). Roman Thums Ururgroßvater brachte ihn (den Schinken) 1860 von Tschechien nach Österreich und etablierte den Wiener Beinschinken nach Prager Art (1. 4.). Zu jenem Zeitpunkt gab es freilich kein Tschechien, sondern das zum Habsburgerreich gehörende Böhmen. Die Tschechoslowakei wurde 1918 gegründet.

Der Schweizer Weltkonzern ABB investiert 100 Millionen Euro in einen Forschungscampus in der kleinen Gemeinde Eggelsberg (17. 4.). Diese liegt nicht bei Schärding, wie in dem Bericht geschrieben wird, sondern im Bezirk Braunau im Innviertel. Das mag den Wienern egal sein, aber nicht den Oberösterreichern.

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Die Oberösterreicher hätten gewiss auch gern in der „Presse“ gelesen, dass sich am Bahnhof Friedburg-Lengau im Bezirk Braunau vier Güterwaggons selbstständig machten und nach 30 Kilometern unkontrollierter Fahrt entgleisten. Die Zeitung erspart sich diese Meldung vielleicht deshalb, weil am selben Tag bei einem Verschubunglück in Salzburg 54 Personen größtenteils leicht verletzt wurden, was aber auch nur einen Einspalter abgibt (21. 4.).

Bei der Geisterfahrt der Waggons ab Friedburg-Lengau wurde zwar niemand verletzt, der Sachschaden ist aber groß und das Ereignis brisant. Bei dem einen wie dem anderen Unglück handelte es sich um eine im Bahnbetrieb alltägliche Arbeit wie Waggons an einen stehenden Zug ankoppeln oder sie in ihrem Stand sicher befestigen. Die Erklärung eines ÖBB-Sprechers, die ÖBB habe statistisch betrachtet kein Sicherheitsproblem, wäre an sich schon eines Kommentars wert. Vielleicht hat sie ein Problem mit der Zuverlässigkeit des Bahnpersonals.
Der ungarische Oligarch Jozsef Farkas soll „aus EU-Transfergeldern bezahlte Regierungsaufträge von über 500 Millionen Forint“ erhalten haben, steht im Korrespondentenbericht (5. 4.). Da kaum alle Leser regelmäßig in Ungarn einkaufen, wissen sie wahrscheinlich auf Anhieb nicht, welchen Wert 500 Millionen Forint, in Euro umgerechnet, haben. Die Redaktion hätte kundenfreundlich einfügen können: 1,6 Millionen Euro.

In der grünen Partei und auch bei deren Dissidenten bröselt es weiter. Das zeigte die Salzburg-Wahl und, wie „Die Presse“ als erste Zeitung enthüllte, der Rücktritt des Klubobmanns der Liste Pilz, Peter Kolba (16. 4.).

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Landesparteichef Gernot Blümel sei zum Minister upgegradet worden (19. 4). Muss man wirklich einen englischen Ausdruck bemühen und ihn obendrein durch die deutsche Grammatik verunstalten, anstatt einfach zu schreiben: Blümel wurde in den Ministerrang erhoben?
Wer sich nicht entscheidet, ob ein Wort oder ein Artikel gebeugt werden muss, verschweigt den Lesern unter Umständen eine wichtige Einzelheit wie hier in der Nachricht „Mord in Koblenz: Obdachloser enthauptet“ (29. 3.): „Der Mann wurde von unbekannten Täter enthauptet.“ War es ein Täter, oder waren es mehrere? Die Grammatik empfiehlt den Lesern: raten.

„Die Presse“ hat eine außerordentliche Neigung, alles, was irgendwie anfängt, „einzuläuten“, selbst wenn es um Länder geht, in denen Kirchenglocken kaum eine Rolle spielen. Im Artikel über die Handelspolitik Chinas heißt es: „Der nächste Eskalationsschritt ist bereits eingeläutet: China will internationale Firmen bestrafen, die Taiwan als eigenständig betrachten.“ (6. 4.)

US-Präsident Trump spalte die Sitcom-Familie. In der zehnten Staffel von „Roseanne“ stößt die Zeitung auf „Nestheckchen Jerry“, der auf hoher See sei (30. 3.). Jerry muss ein doppelt komplizierter Fall sein, sonst wäre er richtig als Nesthäkchen geschrieben worden. Der Name bedeutet Nesthocker und leitet sich laut Duden vom älteren Nesthöckelchen ab.

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Moderne und geradezu kundig klingende Begriffe vermehren sich in der Berufssprache der Journalisten und der Politiker so rasch, als lägen beide Seiten im Wettstreit. Dazu gehören: „Am Ende des Tages“, „Hausaufgaben machen“, „Geld in die Hand nehmen“, „ich gehe davon aus“, die Hintergründe seien „nicht nachvollziehbar“, „die Minister begegneten einander auf Augenhöhe, um sich auszutauschen“.

Der wunderlichste und in seiner Bedeutung am wenigsten haltbare Ausdruck ist „sich austauschen“. Austauschen kann man Argumente oder Ideen, aber kaum sich selber. Ich möchte mich überhaupt nicht austauschen, weder auf Augenhöhe noch am Ende des Tages, denn ich bin mit mir relativ zufrieden, dies freilich nur innerhalb des natürlichen Koordinatensystems menschlicher Begrenztheit.

DER AUTOR

Dr. Engelbert Washietl ist freier Journalist, Mitbegründer und Sprecher der „Initiative Qualität im Journalismus“ (IQ). Die Spiegelschrift erscheint ohne Einflussnahme der Redaktion in ausschließlicher Verantwortung des Autors. Er ist für Hinweise dankbar unter:

Spiegelschrift@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2018)

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