Spiegelschrift

Tiefenpsychologie an jedem Wochenende

Nachdenkpausen. Was hat die „Presse am Sonntag“ Besonderes? Sie zwingt Redakteure, über den tieferen Sinn ihrer Arbeit zu reflektieren.

Es ist ja nicht einfach, von Montag bis Freitag den Minutenzeiger der regionalen Ereignisse im Auge zu behalten und gleichzeitig aus dem Kreißsaal der Weltgeschichte zu berichten. Deshalb schätzen Journalisten am Ende der Woche nach viel Mühe eine geistige Atempause. Sie verschafft Kraft zum Nachdenken darüber, was die Fragmente medialer Sammelwut eigentlich bedeuten. Dennoch überrollt die Tageshektik manchmal die Produzenten der Sonntagsausgabe, zumal die Macher beider Seiten oft weitgehend identisch sind.

Ich halte die „Presse am Sonntag“ vom 13. Mai in der Hand und wundere mich: Wie schaffen sie es, in einer einzigen Ausgabe den brisant werdenden Takt der Weltpolitik anhand des chronischen Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern zu analysieren und gleichzeitig auf einer Doppelseite den scheidenden Wiener Bürgermeister Michael Häupl mit Berlins Exbürgermeister Klaus Wowereit in Interviews zu konfrontieren. Wowereit sagt über sich: „Jede Zeit hat ihre Typen. Ich wäre 20 Jahre vor 2001 vielleicht in der SPD nicht möglich gewesen.“ Was zugleich die Frage aufwirft, ob es in fünf Jahren noch eine SPÖ geben wird, in die Häupl passt. Er sagt: „Die Ursache der Erosion der sozialdemokratischen Parteien besteht darin, dass man mit dem ,dritten Weg‘, mit der Schröder-Blair-Politik, den sozialdemokratischen Weg verlassen hat. Das ist neoliberale Mimikry, das wird den Sozialdemokraten von den Wählern nicht abgenommen.“

In der „Presse am Sonntag“ behauptet der für seine enthüllenden Interviews bekannte deutsche Journalist Sven Michaelsen: „Österreich ist eine Brutstätte für egomane Exhibitionisten und verstiegene Borderline-Persönlichkeiten. Das macht Ihr Land zum Paradies für Interviewer.“ (20. 5.)

Eine Serie von Interviews kann aber auch enthüllen, was nicht ist. Wenn die „Presse am Sonntag“ im Leitartikel feststellt, dass der zum Kanzler gewordene Sebastian Kurz eine radikale, wenn auch nicht die einzige Veränderung im Land sei, lässt sich Kurz in dem Interview noch lange nicht in Grenzfragen seiner Erfolgstour treiben, sondern zieht ruhig wie ein türkiser Schwan seine Bahn im politischen Teich (20. 5.): „Dass das Amt jeder ganz anders ausübt und interpretiert, unterschiedliche Schwerpunkte und Zugänge hat, das ist ja nichts Ungewöhnliches.“ Nur ja nicht aufregen.

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Ist „Die Presse“ gut verständlich? Nicht immer. Dass Wiens Bevölkerung stark wächst, wissen wir. Aber welche Erkenntnis bringt folgende Statistik, in der Wiens Wachstum in absoluten Zahlen mit Prozentsätzen von anderen Bundesländern verglichen wird? „Wien wuchs, wie schon seit 2002, am meisten. Die Einwohnerzahl stieg um 21.194 auf 1.888.776. Überdurchschnittliche Einwohnerzuwächse gab es auch im Westen: In Vorarlberg stieg die Bevölkerungszahl um 0,77 Prozent, in Tirol um 0,67 Prozent. Auch Salzburg (plus 0,60 Prozent) und Oberösterreich (plus 0,58 Prozent) verzeichneten Zuwächse über dem Bundesdurchschnitt.“ (18. 5.) Die Leser sollen sich selbst ausrechnen, um wie viele Prozent Wien wächst.

Wie viele Fremdwörter sind zumutbar? Es kommt darauf an. Was Hysteriker sind, glaubt jeder zu wissen. Aber was ist eine Dystopie? Vielleicht eine Nervenkrankheit? Ich zitiere den Untertitel des Leitartikels: „Die Dystopie der Dritten Republik ist echt nur was für die üblichen Hysteriker.“ (19. 5.) Damit ist zwar noch nichts erklärt, ich beruhige aber jene Leser, die sich schon zu schämen beginnen. Wikipedia benötigt 15 Unterkapitel, um die Dystopie zu erläutern. Ich wage einen Abkürzer:

Eine Dystopie ist das negative Gegenbild zu einer hoffnungsvollen Utopie. Die Dystopie entwirft ein zukunftspessimistisches Szenario von einer Gesellschaft, die sich zum Negativen entwickelt. Dann wird die Zukunft schwarz und nicht türkis. Auch wenn das aus dem Altgriechischen stammende Wort ein Schlüsselbegriff für Gesellschaftstheorien sein sollte, lässt es sich nicht dem Allgemeinwissen zuordnen, sondern verlangt eine spontane Erklärung.

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Mitunter werden Journalisten, die gern mit Fremdwörtern operieren, dabei doch merklich unruhig. Und sie formulieren einen leicht mysteriösen Satz in der üppigen wie gründlichen Vorschau auf die Ära Michael Ludwig in Wien und den Rückblick auf Bürgermeister Häupl, der kein Rezept zur Schwächung der FPÖ gefunden habe – „und auch nie einen anderen Frame, wie Kontextualisierung modern heißt, in der Migrations-/Asylfrage“. (24. 5.)

Zeitnah gehört zu den Modewörtern, die hoch im Kurs stehen, ohne viel auszusagen. „Nur wenn die Untersuchungen zeitnah ein Ende finden, werde sich Trump von (Sonderermittler) Mueller freiwillig unter Eid befragen lassen.“ (22. 5.) Trump möchte also nichts anderes, als dass die Untersuchungen bald oder rasch beendet werden. Überhaupt – inwieweit kann die Zeit nah oder fern sein?

Eine positive Nachricht: Es ereignen sich weniger Alpinunfälle. (9. 5.) Leider wimmelt es in dem Text von Verunfallten. Die Zeitung hätte diesen unschönen Begriff aus der Amtssprache leicht durch Unfallopfer ersetzen können.

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In Cornwall und Devon wandert der Besucher durch verlorene Gärten, imposante Herrenhäuser und diverse botanische Welten. (20. 5.) Und begegnet einer der ältesten Dammwildherden. Leider gibt es diese nicht. Wenn, dann nur Damwild, das nichts mit einem Damm zu tun hat.

Papst Paul VI. und der 1980 ermordete Erzbischof von San Salvador, Oscar Romero, werden noch in diesem Jahr heiliggesprochen, meldet „Die Presse“. (4. 5.) Und schreibt in der Überschrift: „Paul IV. und Romero werden heuer Heilige.“ Legasthenie mit römischen Ziffern?

Der designierte Wiener Bürgermeister, Michael Ludwig, präsentiert sein neues Regierungsteam mit der Bemerkung, er habe sich eine „Wiener Melange“ aus langjähriger Erfahrung und mit neuen Gesichtern gesucht. (15. 5.) „Die Presse“ stellt die Personen übersichtlich vor, unterlässt es aber, deren Lebensalter beizufügen. Wäre wissenswert gewesen.

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Ich lese die Zeitung abwechselnd auf gedrucktem Papier und noch öfter in digitaler Form auf meinem Tablet. Wenn auf ihm etwas nicht richtig funktioniert, suche ich wie bei allen Computersachen zuerst die Ursache bei mir. Das nützt nichts. Warum zeigt das Tablet bei der Lektüre von Sonntagsausgaben statt der Seite 8 grundsätzlich nur ein paar farbige Balken und keine Texte? Zwischen Seite 7 und Seite 9 kann doch nicht nichts sein.

Zumeist erleidet auch eine Sport- oder Wirtschaftsseite das gleiche Schicksal, und sobald ich die Kolumne „Am Herd“ anrühre, verschwindet sie geisterhaft. Das ist schade. Also raschle ich doch wieder mit Papier, lese dort weiter und vermute inzwischen, dass im E-Paper manche Konstruktionsschwächen zu beheben wären.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2018)

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