Die Lehren, die wir aus den 1930ern ziehen sollten

(c) Peter Kufner
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Zack Exley, einer der Erfinder des „Green New Deal“, über Parallelen zu den 1930ern und Wege aus der aktuellen Krise.

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

Wir begehen die gleichen Fehler wie in den 1930er-Jahren.“ Das sagte ein Professor der Harvard Business School vor einigen Monaten – noch bevor Donald Trump per Twitter unvorstellbare Drohungen und Beleidigungen gegen Abgeordnete des Repräsentantenhauses ausstieß. Damit hörte ich zum ersten Mal einen anerkannten Akademiker – immerhin einen Harvard-Professor! – feststellen, dass vor unseren Augen eine schlimme Entwicklung abläuft, und dass offenbar niemand einen Plan hat, wie sie zu stoppen ist.

Es stünde in der Macht der Medien, der demokratischen Parteien und der Zivilgesellschaft, den Aufstieg der antidemokratischen, autoritären neuen Rechten aufzuhalten. Aber diese Gruppen haben diese Macht noch nicht für sich entdeckt. Die Entscheider von heute verhalten sich genauso wie der größere Teil des Establishments in den 1930ern, als der Faschismus neben Europa auch in den USA – was auf beiden Seiten des Atlantiks gern vergessen wird – einen Aufschwung erlebte.

Das Establishment (wir können sie auch „die Führung der politischen Mitte“ nennen) lag damals in zweierlei Hinsicht falsch. Erstens gelang es Mitte-links- und Mitte-rechts-Politikern nicht, überzeugende Antworten auf die wirtschaftliche und soziale Stagnation zu finden. Sie operierten – oft ganz bewusst – nur als Manager des Niedergangs. So entstand ein Raum, in den Faschisten vorstießen.

Zweitens sah die Mitte dabei zu, wie antidemokratische, faschistische Parteien demokratische und zivile Normen verletzten, und antwortete darauf bloß mit Beschwerden. Als die Faschisten Macht vermehrt mittels physischer Gewalt ausübten, unterließ die politische Mitte es, politische Macht mittels der verfügbaren demokratischen Institutionen auszuüben.

In den USA füllte eine Nazi-Gruppe Stadien, der deutsche und italienische Faschismus erhielt viel Unterstützung aus der Elite wie aus der breiten Masse, und populäre Radiomacher predigten täglich verschiedene Schattierungen von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus. Den Ausschlag gab, dass Präsident Roosevelt konkrete, einschneidende Lösungen gegen die Weltwirtschaftskrise anbot. Dabei waren weder Roosevelts Bekenntnis zur Demokratie noch die Tatsache, dass er das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen konnte, von vornherein klar. Die USA hatten einfach Glück. Die meisten Maßnahmen des New Deal waren in der Elite, zu der Roosevelt ja auch gehörte, sehr unpopulär. Aber er vertraute seinem Instinkt und führte sie gegen flammende Kritik und trotz Rücktritten von Kabinettsmitgliedern und seiner Verbündeten durch. Er löste den Dollar vom Goldstandard, ließ gegen die Deflation und zur Ankurbelung der Nachfrage Geld drucken und reorganisierte den Bankensektor.

Ebenso wichtig war, dass Präsident Roosevelt über das relativ neue und noch schlecht verstandene Medium Radio mit der extremen Rechten in den Wettbewerb trat – das heutige Äquivalent zum Radio ist natürlich das Internet. Er war ein Naturtalent, und es gelang ihm hervorragend, das Vertrauen der Menschen für den New Deal zu gewinnen. Das war eine Art, politische Macht gegen Faschismus und Rechtspopulismus auszuüben.

Der Krieg lieferte die Lösung

Es hätte auch ganz anders kommen können. Wäre Roosevelt furchtsam gewesen oder ein schlechter Kommunikator, wäre die extreme Rechte in den USA noch stärker geworden. Nur wenige erinnern sich daran, dass sich der Präsident durchaus für den Faschismus hätte entscheiden können. Bei seiner Inauguration versammelten sich Veteranen des Ersten Weltkriegs – die gleiche Wählerschaft, die die Reihen faschistischer Parteien in Europa füllte. Und Roosevelt hielt eine zweite Version seiner Antrittsrede in der Hand, die für Autoritarismus plädierte, um die Probleme der Depression zu bewältigen. Doch er entschied sich für den demokratischen Weg.

Wir wissen nicht, was geschehen wäre, hätte Japan mit dem Überfall auf Pearl Harbour Roosevelt nicht den Anlass geliefert, um gegen den Widerstand der öffentlichen Meinung in den Krieg zu ziehen. Die Maßnahmen des New Deal brachten Millionen Amerikanern zwar Erleichterung in der Not und stoppten den Zusammenbruch der Wirtschaft. Aber sie wandelten den freien Fall nur in Stagnation um, und die Bevölkerung hätte schließlich das Vertrauen verloren.

Da der Zweite Weltkrieg nicht auf dem Boden der USA ausgefochten wurde, wurde er zum größten Entwicklungsfaktor für die US-Wirtschaft. Plötzlich gab es nicht nur ein Projekt zur Rettung der Wirtschaft, sondern Millionen an guten neuen Jobs. Der Krieg lieferte jene Lösung, die Roosevelt als typischer Vertreter des Mitte-links-Establishments nicht selbst liefern konnte.

In vielerlei Hinsicht und in vielen Teilen der Welt stehen wir wieder am gleichen Punkt wie Anfang der 1930er-Jahre: Obwohl weniger extrem, als dies damals für Europa oder die USA galt, empfinden heute Milliarden Menschen die wirtschaftliche Stagnation oder den Abstieg als beängstigend und ungerecht. Der Kapitalismus gab der Menschheit im 20. Jahrhundert das Versprechen, dass es jeder Generation besser gehen würde als der vorhergehenden. Nun sehen große Teile vieler Gesellschaften, wenn nicht gar die Mehrheit, dass sie schlechter dran sind als ihre Eltern. Immer mehr Menschen schließen daraus, dass die Parteien der politischen Mitte keine bessere Zukunft bieten können. Heute gibt es keine radikale Linke, die mit der antidemokratischen Rechten um die Gunst desillusionierter Wähler buhlen könnte. Aber vielleicht ist das die Gelegenheit für eine neue pluralistische und demokratische Politik frei von politischen Altlasten aller Art.

Damit sich eine solche neue Politik durchsetzen kann, muss sie sowohl konkrete, einschneidende Lösungen gegen den wirtschaftlichen Abschwung und die Stagnation bieten als auch mittels demokratischer Institutionen und Traditionen politische Macht effektiv ausüben. Sie muss, in anderen Worten, gut darin sein, mit den Menschen zu kommunizieren, sie zu inspirieren und ihr Vertrauen für dieses wirtschaftliche Projekt zu gewinnen.

So wie der Zweite Weltkrieg für Roosevelt der Faktor war, aufgrund dessen die Krise der US-Wirtschaft überwunden wurde, könnte der Klimawandel jener Faktor sein, der heute hilft. Aber es ist noch offen, ob es die extreme Rechte oder eine neue politische Bewegung sein wird, die diesen Faktor, diese Ausgangslage aufgreift und zur Tat schreitet. Und es ist noch offen, ob diese Ausgangslage von demokratischen Parteien genützt wird, um die Klimakrise zu lösen, oder ob neue rechte Parteien diese Krise als Vorwand verwenden, demokratische und bürgerliche Rechte abzuschaffen.

Hier der Text in der englischen Originalfassung:

We’re doing the 30’s wrong again.” That is what a Harvard Business School professor told me several months ago, long before Trump was leading stadium crowds in chants of “send her back” and Tweeting unthinkable insults and threats at sitting members of Congress. I’ve been studying the 30’s since I first started reading history as a high school student in the 80’s. But this was the first time I’d ever heard a respectable academic — a Harvard professor no less! — recognizing that something terrible is happening before our eyes, and that no one seems to have a plan to stop it.

I believe that, all around the world, the press, democratic parties and civil society have the power to stop the rise of the anti-democratic, authoritarian New Right. But they have generally not yet found that power. Today’s leaders are repeating the mistakes that most of the establishment made in the 1930’s as fascism rose all across Europe and America — and it did initially rise just as seriously in America as it did in Europe, something that tends to be forgotten on both sides of the Atlantic.

The establishment (or you can say “Mainstream leaders” – or whatever) made two separate kinds of mistakes in the 1920’s and 30’s:

On the one hand, leaders of the center left and center right failed to provide convincing solutions to economic and social stagnation and decline. They functioned — often self-consciously and openly — as decline managers. This has opened a space that fascists rushed in to occupy in democratic politics.

On the other hand, the center watched anti-democratic fascist parties to violate democratic and civil norms over and over and answered with mere complaints. As fascists increasingly exercised power through physical violence, the center often failed to strongly and decisively exercise political power against the fascists using the democratic institutions available.

In the 1920’s and 30’s, fascism rose in the U.S. just as explosively as in many parts of Europe. An American Nazi group held stadium rallies, support for Italian and German fascism was strong among the masses and elites alike, and massively popular radio personalities preached various strains of racism, xenophobia, anti-Semitism and authoritarianism to a majority of the population every day.

What turned the tide in the U.S. was that president Roosevelt offered practical, dramatic solutions to the decline and stagnation of the Great Depression. A close study of the New Deal era reveals that neither Roosevelt’s success at winning the confidence of the people nor his commitment to democracy were inevitable. The U.S. just got really lucky. The most important features of the New Deal were wildly unpopular among Roosevelt’s elite peers. He trusted his gut and did them anyways, against their passionate complaints and resignations of his most powerful allies and cabinet members. He took the dollar off the gold standard, he printed money to cure deflation and stimulate demand, he closed and reorganized the banking system and much more.

Equally as important: Roosevelt competed with the extreme right on the relatively new and poorly understand medium of radio (equivalent to the Internet today). He was a natural and did an amazing job of winning the confidence of the people for his New Deal. That was one of the powerful ways that Roosevelt exercised political power against right wing populism and fascism in America.

It didn’t have to go that way. If Roosevelt had been timid, or been a bad communicator, fascism would have continued to rise in America. What few remember, is that Roosevelt had the option of choosing fascism. World War I veterans – the same constituency that fed the ranks of fascist parties in Europe – gathered for Roosevelt’s inauguration, at which Roosevelt held in his hands an alternate version of his inaugural speech that called for a new authoritarianism to solve the problems of the Depression. But Roosevelt stuck with democracy.

If Japan had not provided Roosevelt the excuse he needed to enter the war against public opinion, there’s no telling what would have happened next. His New Deal policies provided important emergency relief to millions of Americans, and halted the collapse of the economy. But they merely turned economic free fall into economic stagnation. Eventually, the people were going to lose faith.

For America, because it was not fought on American soil, World War II became the biggest, fastest economic development project the world had ever seen. Suddenly, America not only had an economic mission, but also tens of millions of new good jobs. The war provided the economic solution the Roosevelt, as a typical center left establishment figure, could not generate himself.

In many ways we’re now right back at the beginning of the 1930’s in most parts of the world: though it’s less extreme today than it was for Europe or the U.S. in the 30’s, the economic stagnation or decline feels terrifying and wrong to billions of people on earth right now. Capitalism made humanity a promise in the 20th century that each generation would always be better off than the last. Today, a huge chunk if not a majority, of most societies in industrialised nations will find themselves worse off than their parents were. A growing portion of every nation is therefore concluding that the center parties are not capable of delivering a better future.

Today, there is not even a radical left to compete with the anti-democratic right for the attention of disaffected voters. Perhaps that creates an opportunity for a new pluralist, inclusive and democratric politics for a better future that is free of both centrist and leftist baggage.

For that new politics to rise and deliver it will need to both provide practical, convincing solutions to economic stagnation and decline – while also exercising political power effectively through democratic institutions and traditions: in other words, it will need to be good at communicating with and inspiring the people to win their confidence for its economic project.

In the same way that WWII supplied Roosevelt with the project that finally resolved America’s economic crisis, climate change may be the development that will provide our era with its project. But it is still to be decided whether the extreme right or a new political movement will be the ones developing and executing that project – and it is also still to be decided whether the project will be one executed by democratic parties to actually solve climate change, or by New Right parties to use worsening climate crisis as an excuse to end democracy and civil rights.

Serie „Zu Gast in Alpbach“: Wir veröffentlichen wöchentlich Gastkommentare von Vortragenden des Europäischen Forums in Alpbach (14.−30. August). Das englische
Original dieses Textes finden Sie online unter:diepresse.com/debatte

Der Autor

Zack Exley (*1969) ist Berater für Politik und Digitales. Er gestaltete die Grassroots-Kampagne des US-Demokraten Bernie Sanders, entwickelte den „Green New Deal“ mit und ist Berater von Sozialistin Alexandria Ocasio-Cortez. Er nimmt diesen Sommer am Europäischen Forum Alpbach teil und wird dort ein „Digital Democracy Lab“ leiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2019)

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