Die Krise der liberalen Demokratie

In Frankreich musste Präsident Macron seine Reformagenda begraben. Das Parlament in London ist nicht fähig, Mehrheiten zu organisieren. Es sind Symptome einer tiefen Umwälzung in Europa.

Die Zeiten sind gar nicht so schlecht in Europa. Die Wirtschaft wächst auf dem ganzen Kontinent, auch in Großbritannien. Die Arbeitslosenrate ist überall zurückgegangen, von Griechenland bis Frankreich. Da und dort können sogar Haushaltsüberschüsse erzielt werden, in Deutschland zum wiederholten Mal, in Österreich leider nicht. Von Aufbruchstimmung kann jedoch nirgendwo die Rede sein. Der Missmut regiert Europa, egal, ob die Konjunktur gerade gut oder schlecht ist. Es finden sich in dieser alternden Gesellschaft der Verdrossenen immer Gründe für Wut und Bittermienen.

Frankreichs Präsident, Emmanuel Macron, wagte den Versuch, Begeisterung für einen Neuanfang zu verbreiten. Er scheiterte kläglich, an sich selbst und seinem Hochmut, vor allem aber an der Reformresistenz seiner Landsleute. „En Marche“ (Vorwärts) nannte der Ex-Sozialist seine liberale Bewegung. Inzwischen legte er, eingeschüchtert von gewalttätigen Protesten, den Retourgang ein. Macron kam unter dem roten Teppich angekrochen, um in seiner neuen Rolle als demütiger Weihnachtsmann Geschenke zu verteilen. Er versprach, die Mindestlöhne anzuheben und Rentner zu entlasten. Das summiert sich auf zehn Milliarden Euro. Damit kann sich Macron die Einhaltung der EU-Defizitgrenze, die Frankreich im Vorjahr zum ersten Mal seit 2007 geschafft hat, gleich wieder aufmalen.

Mahnmal. Die Gelbwesten blieben von den Zugeständnissen, wie zuvor schon von der Aussetzung der Ökosteuer, unbeeindruckt. Am Samstag marschierten wieder Tausende. Wahrscheinlich wird die Protestwelle über die Weihnachtsfeiertage abebben, doch sie brandet wohl schnell auf, falls Macron je wieder Reformeifer entwickeln sollte. Die Franzosen wissen nun, wie sie auch diesen Präsidenten ins Bockshorn jagen können.

Macron ist über die Grenzen seines Landes hinaus ein Mahnmal für Reformer. Populisten aber können sich bestärkt fühlen. Der Groll sitzt tief in Europa – eine leicht entflammbare Mischung aus Verdruss über Globalisierung, über Kaufkraftverluste, Zuwanderung und unfähige Eliten. Die westlichen Demokratien blockieren sich derzeit auffallend oft selbst. In London ist das Parlament offenbar nicht in der Lage, Mehrheiten zu organisieren: weder für den Brexit-Deal noch für eine Alternative noch für einen Sturz der Premierministerin. In Schweden kommt seit Monaten keine Regierung zustande, in Belgien fällt sie auseinander, in Deutschland waren die Koalitionsparteien über Monate fast ausschließlich mit sich selbst beschäftigt.

Das sind Symptome einer tieferen Umwälzung. Die traditionellen Parteien bilden die großen Konfliktlinien in der Gesellschaft nicht mehr ab, der Riss geht durch die Parteien selbst. Der Brexit etwa spaltet sowohl die Tories als auch Labour; ähnlich verhält es sich beim Migrationsthema. Den Druck steigert die wachsende Ungeduld von Bürgern, die sich über soziale Medien in eine polarisierende Dauererregung versetzen und die Kunst des Kompromisses verachten.

Doch nicht alle sind schlecht gelaunt: Die Autokraten von Moskau bis Peking freut die Krise der liberalen Demokratie sicher.

christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.12.2018)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.