Es geht endlich vorwärts – zum alten Gymnasium

Man tut sich zunächst schwer, das ÖVP-Bildungskonzept sinnerfassend zu lesen. Dann aber merkt man: Es ist bloß die Renaissance des Schulsystems anno 1870.

Das ÖVP-Bildungskonzept ist sicherlich eine interessante Lösung. Fragt sich nur, für welches Problem. Nicht, dass es nicht genug Bildungsprobleme gäbe. Jeder, der auch nur am Rande die Misere miterlebt, kann eine lange Litanei aufzählen. Zum Beispiel:

• Es gibt keine wirklich Verantwortlichen für die Qualität einer Schule – dem Direktor sind die Hände gebunden, der Bürgermeister ist nicht zuständig, und der Landeshauptmann und die Bildungsministerin sind weit weg.

• Es gibt (noch) keine Qualitätsmessung der einzelnen Schulen, daher kann man ohnehin nicht feststellen, ob ein Verantwortungsträger eingreifen müsste.

• Deshalb findet Wettbewerb zwischen den Schulen vor allem in Nebensächlichkeiten statt – nicht bessere Lernergebnisse werden vermarktet, sondern der Sanskrit-Schwerpunkt, die Projektwoche in São Paulo und das WLAN auf dem Schulklo.

• Die Volksschulen, zunehmend auch die Hauptschulen und AHS-Unterstufen sind in der Konfrontation mit verhaltensgestörten oder zumindest motivationsarmen Kindern zunehmend überfordert.

• Für engagierte Lehrer gibt es keine Belohnung, für gleichgültige keine Sanktion.

• Und dann, erst dann, gibt es auch das Problem, dass immer noch breite Schichten der Bevölkerung an höherer Bildung nicht übermäßig interessiert sind, weil der Papa und die Mama das auch nicht nötig gehabt haben. Gerade ihre begabten Kinder fallen um Bildungschancen um, weil die Entscheidung für oder gegen eine höhere Schule mit dem neunten Lebensjahr fällt und daher oft lange, bevor das Kind sich entfaltet hat.

Daneben ist auch ein Nichtproblem gut bekannt: das Geld. Österreich ist eines der Länder mit den weltweit höchsten Bildungsausgaben je Schüler und Studenten. Eine Unterdotierung kann also nicht schuld sein an den mittelmäßigen Schulleistungen. Daher ist es zunächst verwunderlich, dass das ÖVP-Konzept vor allem eines beinhaltet: zusätzliche 130 Millionen Euro jährlich fürs Schulsystem, zwecks Umbenennung aller Hauptschulen in „Neue Mittelschule“.

Aber das ist ein ganz gefinkelter Schachzug, mit dem die ÖVP gleich dreierlei erreichen möchte: Erstens kann die ÖVP nach ihrer teuren Pro-forma-Zustimmung zu den von der SPÖ geliebten Neuen Mittelschulen auf Entgegenkommen des Koalitionspartners in Universitätsangelegenheiten hoffen. Zweitens hofft die ÖVP damit, ihr geliebtes Gymnasium zu retten. Denn nach ihrem Konzept wird es künftig eine Gesamtschule für alle Zehn- bis 14-Jährigen geben – mit Ausnahme jener Kinder, die weiter ins Gymnasium gehen werden. Drittens aber könnte das Gymnasium an seine alten Qualitätsstandards anschließen. Denn wenn die derzeit bei vielen Eltern ungeliebten Hauptschulen einmal alle „Neue Mittelschule“ heißen, frisch gestrichen sind und einen Italienisch-Schwerpunkt, eine Projektwoche in Duisburg und einen Gratis-USB-Stick für jeden Schüler anbieten, so werden – glaubt die ÖVP – die mittelmäßigen Kinder künftig wieder dorthin gehen und nicht mehr die Klassenzimmer der Gymnasien überfüllen.


Es handelt sich also bloß um die Renaissance des alten Gymnasiums. Das ÖVP-Konzept ist auf eigenartige Weise elitär – weil es nicht die bestmögliche Ausbildung für jeden im Blick hat und eine im internationalen Standortwettbewerb unerlässliche möglichst breite Spitzengruppe, sondern einen prestigeträchtigen Bildungsweg für möglichst wenige. Das Motto scheint zu sein: Maturanten haben wir eh zu viele! Das passt zur Familienpolitik der ÖVP, die zuletzt auch deutliche Signale ausgesendet hat, dass sie Bildungsehrgeiz als unnötigen Luxus betrachtet.

Paradoxerweise würde das Konzept der ÖVP aber tatsächlich eine Verbesserung gegenüber dem Status quo darstellen – zumindest in Wien, wo 52 Prozent der Zehn- bis 14-Jährigen in die heutige nicht differenzierende Gesamtschule namens Gymnasium gehen (im Rest Österreichs sind es 29 Prozent), wodurch weder dieses noch die Hauptschule die Chance haben, richtig zu funktionieren. So weit sind wir also schon: dass sogar ein Schulsystem aus der Mitte des 19.Jahrhunderts besser wäre als das derzeitige. Kein Wunder, dass sich die Regierungsparteien gar nicht erst anstrengen, ein Konzept auf der Höhe des 21. Jahrhunderts zu entwickeln.

E-Mails an: michael.prueller@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.01.2011)

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