Piaf, Brel, Aznavour – unvereinbar mit der heutigen Moral?

Édith Piaf
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Ein ironisches Inventar der „im Namen der neuen Moralordnung verbotenen“ Songtexte bietet das französische Magazin „Marianne“.

Édith Piaf, Jacques Brel, Charles Aznavour, Georges Brassens, Barbara, Maurice Chevalier, Léo Ferré, Jean Ferrat, Yves Montand und so weiter und so fort – alles, was Rang und Namen hat in der französischen Chansontradition des 20. Jahrhunderts, findet sich im „Inventar der im Namen der neuen Moralordnung verbotenen Couplets“.

Erstellt hat es die französische Zeitschrift „Marianne“ – traditionelles publizistisches Flaggschiff der französischen Linken – in ihrer jüngsten Ausgabe zur Jahreswende. Gemeint ist es als ironische Reaktion auf die Advent-Nachricht, dass in Kanada und den USA Sender den alten Weihnachtsklassiker „Baby, It's Cold Outside“ aus dem Programm genommen haben (weil in ihm ein Mann eine Frau in nicht #MeToo-gemäßer Weise dazu zu überreden versucht, die Nacht bei ihm zu verbringen).

Tatsächlich führt die Liste die anachronistische Beurteilung früherer Kunst ad absurdum. Sie zeigt, dass von der französischen Chansontradition wenig übrig bliebe, würde man zensurieren, was unvereinbar mit heutigen Moralmaßstäben ist. Ganze 60 Seiten füllt das Inventar an Liedtexten: In ihnen kann man misogynes, homophobes oder kolonialistisches Denken finden, Verklärung von Prostitution, Pornografie und Sex mit Minderjährigen, Verherrlichung von Suchtmitteln, Verharmlosung von Tierleid, Vergehen gegen die Umwelt oder Verletzung religiöser Gefühle.

Da ist etwa Magali Noël, die im Klassiker „Fais-moi mal, Johnny“ („Tu mir weh, Johnny“) um ein bisschen körperliche Gewalt bettelt und singt: „Moi j'aime l'amour qui fait boum“ („Ich liebe die Liebe, die Boum macht“). Da ist das Mädchen in Barbaras „Un monsieur me suit dans la Rue“, das sich freut, weil sich endlich ein Mann nachts auf der Straße an ihre Fersen heftet (freilich, leider war es nur „un vieux dégoûtant“, ein „altes Ekel“).

Oder Édith Piaf, die Hymnen auf die wundervolle Prostituierte und den rücksichtslosen Mann sang, und die über eines der bekanntesten Lieder ihres Kollegen Jacques Brel, „Ne me quitte pas“, sagte: „Ein Mann sollte solche Sachen nicht singen!“ Warum nicht? Weil das männliche Ich im Lied vor Verzweiflung alles zu tun bereit ist, nur damit die geliebte Frau bei ihm bleibt.

Ganz abgesehen von Piafs Lied „Le grand Voyage du Pauvre Nègre“: Ein Schwarzer wird auf ein Schiff gesperrt, klagt in gebrochenem Französisch und mit schlichtem Gemüt dem lieben Gott sein Leid. Auch ohne das N-Wort würde die Anklage heute „unterschwelliger Rassismus“ lauten.

Was tun mit dem kürzlich verstorbenen Charles Aznavour? In „Donne tes 16 Ans“ („Gib deine 16 Jahre“) redet ein offenbar um Etliches älterer Mann einem jungen Mädchen zu, mit ihm ins Bett zu gehen. In „Trousse-Chemise“ wirft ein Mann in einem Satz Weingläser, „dein leichtes Kleid und deine 17 Jahre“ um.

Jean Ferrat macht sich über die Stiere im Stierkampf lustig, Léo Ferré empfindet (in „Les fourreurs“) Mitleid mit den Pelzhändlern. Und Yves Montand verharmlost den Genuss von Foie gras, von Stopfleber, und damit das Gänseleid. Ganz zu schweigen von den Hymnen auf alle möglichen Benzinfresser.

Beleidigung der Religion war unter Künstlern ohnehin allgegenwärtig, und zwar schon im 19. Jahrhundert: Da erzählte in „Le Pape Musulman“ der französische Sänger Pierre-Jean de Béranger von einem Papst, der sich zum unkeuschen Jünger des Propheten Mohammed macht.

anne-catherine.simon@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.01.2019)

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