Flaubert heute

Warum wir immer mehr Kinder zu Therapiefällen machen.

Schon jetzt ist abzusehen, dass der Streit über die Schulorganisation auch im nächsten Schuljahr weitergehen wird. Neben dieser mit großem Trommelwirbel geführten Auseinandersetzung gibt es aber andere Entwicklungen, die sich still, zäh und tückisch in den Schulalltag eingenistet haben. Obwohl sie massiv in das Leben der Kinder eingreifen, werden sie nur selten öffentlich diskutiert. Eine solche Entwicklung ist die schleichende Verschiebung dessen, was wir beim heranwachsenden Kind als „normal“ betrachten. Um es provokant zu sagen: Wir stellen das Kind auch deshalb in den Mittelpunkt, um leichter seine Defizite suchen zu können. Was wir früher gelassen abgewartet haben, definieren wir heute als pathologisch.

Lassen sie mich dazu ein Beispiel aus der Literatur bringen. Jean-Paul Sartre hat seiner Flaubert-Biografie nicht grundlos den Titel „Der Idiot der Familie“ gegeben. Denn der junge Flaubert war alles andere als ein Wunderkind: Verglichen mit seiner Altersgruppe galt er als zurückgeblieben. Die damalige Schule mit ihrer Mischung aus Zuwarten, Privatunterricht und wohl auch einem Schuss Gleichgültigkeit kam, so seltsam das klingt, dem kleinen Gustave zugute. Sie rettete den jungen „Idioten“ – und seinen späteren Weltruhm.

Flauberts Biografie reizt zum Nachdenken. Was würde heute mit ihm geschehen? Jahrelanges Zuwarten können wir ziemlich sicher ausschließen. Wahrscheinlich würden wir diesen „Zurückgebliebenen“ sorgfältig testen und dabei eine Teilleistungsschwäche feststellen. Diese wäre dann über die Schule quasi amtlich. Würde unser heutiger Gustave, so wie der historische, mit sieben oder acht Jahren immer noch nicht lesen, müsste man ihn wohl sonderpädagogisch behandeln oder rückstufen. Früher oder später gälte er – immer in bester Absicht – als Therapiefall und wäre (zumindest in den Augen anderer) fürs Leben gezeichnet. Ob das der ideale Ausgangspunkt für eine Dichterkarriere wäre, darf bezweifelt werden. Beim historischen Gustave hat sich das Zuwarten gelohnt.

Seit vielen Jahren liefert die Testpsychologie, und dafür sei ihr Dank, immer feinere Messergebnisse. Die Frage ist nur, was mit ihnen geschieht. In vielen Fällen setzt ein trauriger Kreislauf ein: Kinder, bei denen Verständnis und Warten besser wäre, werden von Therapie zu Therapie gereicht. Wo früher Geduld war, herrscht heute ein angstvolles Hintrimmen auf einen „normalen“ Entwicklungsstand. Anstatt schützend zu warten, konstatieren wir „steigenden Förderbedarf“. Dass sich dahinter auch andere Interessen, etwa ökonomische, verbergen können, sei nur leise gesagt.

Dass unsere Kinder „immer verhaltensauffälliger“ werden, ist eine oft gehörte Klage. Es wäre gut, über die Konsequenzen, die wir aus dieser Behauptung ziehen, und ihre fatalen Risken und Nebenwirkungen nachzudenken.

Kurt Scholz war langjähriger Wr. Stadtschulratspräsident


meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.08.2009)

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