Utopia Schule 9: Die fehlenden Maßstäbe

Noten sind nur für Verbohrte ein Urteil über Menschen – wegen solchen Unsinns sind Geistesgrößen wie Churchill oder Kafka an der Schule fast zerbrochen.

In seinem etwas zu lang geratenen Buch „Der Schwarze Schwan“ trifft der ehemalige Broker Nassim Taleb eine bemerkenswerte Unterscheidung: Man stelle sich eine Stichprobe von tausend Erwachsenen vor. Einerseits bestimmt man von jeder Person die Körpergröße, andererseits ermittelt man ihr Vermögen. Bei der Körpergröße mag sich unter den Tausend ein „Ausreißer“ befinden, ein Riese, 2,2 Meter groß. Aber er ist nicht in den Himmel gewachsen. Er fällt unter den anderen zwar auf, aber ist nicht über alle Maßen groß. Beim Vermögen jedoch mag es passiert sein, dass sich Warren Buffett unter den Tausend befindet. Ein Vergleich seines Vermögens mit dem eines durchschnittlichen Weltbürgers ist sinnlos. Hier zerbricht die Skala.

Diesem Problem hat sich die Schule seit jeher zu stellen, wenn es um Benotung geht: Um überhaupt Maßstäbe mit angemessen vergleichbaren Leistungen definieren zu können, muss man von vielem absehen, was ein Kind oder einen jungen Menschen als einzigartige Persönlichkeit auszeichnet. Darum sind Noten nicht so wichtig. Tatsächlich werden nur Verbohrte in Noten Urteile über Menschen erblicken – wegen solchen Unsinns sind Geistesgrößen wie Churchill, Kafka, Baudelaire, Jaspers an der Schule fast zerbrochen.

Noch problematischer aber ist es, wenn man versucht, Maßstäbe des guten Unterrichts zu definieren. Diese drohen auf die Lehrkräfte zuzukommen, wenn einerseits die Direktorinnen und Direktoren befugt sein werden, über den Verbleib an der Schule zu entscheiden, und andererseits die geplanten „Bildungsdirektionen“ – ein etwas eigenartiges Wort – überprüfen werden, ob in den Schulen des jeweiligen Bundeslandes lege artis gelehrt und gelernt wird. Wie klassifiziert man die hervorragenden, die guten, die genügenden, die nicht genügenden Lehrkräfte? Die einzig cum grano salis vernünftige Maßnahme wäre in meinen Augen, die Eltern – einige Jahre nachdem das Kind die Grundschule verlassen hat – bzw. die Absolventen der Mittelschule – ebenfalls einige Jahre nach ihrem Schulbesuch – zu fragen, welche der Lehrerinnen und Lehrer einst in der Schule positiv oder negativ (oder gar nicht) prägend waren. Zugegeben: solche Beurteilungen kommen spät, vielleicht zu spät. Beurteilungen, die hic et nunc getroffen werden, sind jedoch mit riesigen Unwägbarkeiten behaftet.

War Ludwig Wittgenstein ein guter Volksschullehrer? Nimmt man den üblichen Maßstab, der an Lehrer angesetzt wird – Einfühlungsvermögen für die Kinder entwickeln, den Lehrstoff klar aufbereiten, Hausübungen kontrollieren, Schularbeiten korrigieren, usw. –, war er im Vergleich mit seiner Kollegenschaft ein Zwerg. Er hat Kinder mit Schlägen traktiert, die Stunden überzogen, den Lehrplan über den Haufen geworfen. Trotzdem habe ich noch alte Bauern gesehen, die voll Bewunderung über ihren einstigen Lehrer Wittgenstein sprachen. Sie ahnten schon damals: Er ist ein Genie, der ein geistiges Vermögen vor ihnen aufbereitet, das dem materiellen Vermögen des Warren Buffett um nichts nachsteht.


meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.08.2009)

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