Bildungsferne Schichten

Mitgefühl und Hybris.

Seit Jahrzehnten vernimmt man sie: die Klage, an die Universitäten würden vor allem jene streben, die aus einem Elternhaus stammen, in dem es gang und gäbe ist, studiert oder wenigstens maturiert zu haben. Viel zu wenige gelangten an die Universität, die in den „bildungsfernen Schichten“ aufwüchsen.

Dieser Begriff der „bildungsfernen Schichten“, eigentlich ein Euphemismus dessen, was man früher brutal die „Unterschichten“ nannte, prägte sich seither immer mehr in das Vokabular von Bildungsexperten und Politikern ein. Gleichsam als ob dies ein konstanter Block innerhalb unserer Gesellschaft wäre, aus dem junge Menschen mit Benachteiligungen in ihren Karrierechancen hervorkämen. Und damit verwoben – sicher unbewusst, aber doch spürbar – ist einerseits das Mitgefühl, andererseits die Hybris jener, deren Schicksal sie vor der Zugehörigkeit zu den „bildungsfernen Schichten“ bewahrte.

Doch weder Mitgefühl, schon gar nicht Hybris ist angebracht. Und anscheinend fruchten auch gut gemeinte Appelle, Universitäten für aus „bildungsfernen Schichten“ kommende junge Leuten zu öffnen, wenig. In Wahrheit gilt es, bildhaft gesprochen, den Stier bei den Hörnern zu packen. Will sagen: Alle Bemühungen haben sich danach auszurichten, den nur scheinbar unveränderlichen Block der „bildungsfernen Schichten“ aufzuweichen. Nicht allein dadurch, dass man die aus ihm kommende junge Generation von ihm weglocken möchte, sondern dass man diesen Block selbst mit attraktiven Bildungsangeboten durchlöchert.

Nirgends steht geschrieben, Bildung dokumentiere sich am Maturazeugnis oder an der Sponsion. Es gibt auch sie, die Ungebildeten wie Wagner in Goethes Faust. Im Umkehrschluss ist niemand, der allein die Pflichtschule absolviert hat, unbesehen als Angehöriger „bildungsferner Schichten“ zu punzieren. Anders als Ausbildung, die abprüfbar dazu führt, dass man etwas kann, zeichnet sich Bildung dadurch aus, dass sie dazu führt, etwas zu werden: eine bewusste, darüber nachdenkende und dies erwägende Persönlichkeit. Es ist schlicht sinnlos, so etwas prüfen oder zertifizieren zu wollen, gar jemandem sein Bemühen dazu abzusprechen. Im Gegenteil: Es gilt zu ermutigen.

Als Lehrer an der TU Wien fühle ich mich zwar für die Bildung, darüber hinaus aber auch für die Ausbildung von Studenten verantwortlich. Bei Vorträgen im math.space im MQ Wien hingegen bemühe ich mich allein um die Verbreitung von Bildung. Alle können kommen. Und viele kommen. Kunterbunt. „Bildungsferne Schichten“ gibt es hier nicht mehr. Natürlich ist dies nur ein kleiner Beitrag zu einem großen Programm: Nur wenn die Bringschuld geleistet wird, die Verzauberung und Zugkraft, mit der Bildung einhergeht, möglichst weit zu verbreiten, kann die Holschuld verlangt werden, dass sich möglichst viele der Bildung öffnen.

Ein Programm entscheidend für die Zukunft des Landes.

Rudolf Taschner ist Mathematiker und Betreiber des math.space, im quartier21, MQ Wien.


meinung@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2010)

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