So war's nicht gemeint! Die Hattie-Studie – falsch verstanden

Wissenschaftliche Ergebnisse werden oft falsch ausgelegt oder instrumentalisiert. Der „Hattie-Studie“ geht es da nicht anders.

Die Stärke der Wissenschaft liegt unter anderem in der Chance, das eigene Weltbild an objektivierbare Realitäten anzupassen. Wie die ausgebrochene öffentliche Diskussion um John Hattie belegt, spannt man die Wissenschaft aber offenbar lieber zur Untermauerung von Ideologien ein.

Als ich an dieser Stelle diese Megastudie zum Lernerfolg in der Schule erstmals thematisierte, kannte den australischen Bildungsforscher hierzulande kaum jemand. Zur Erinnerung: John Hattie untersuchte den Einfluss von 137 Faktoren auf den Lernerfolg und fand im Wesentlichen heraus, dass es auf die Qualität der Lehrerpersönlichkeit ankommt, die offen, anpassungsfähig, empathisch etc. sein müsse (solche Wunderlehrende gibt es wirklich!). Wenig Einfluss zeigten dagegen die Organisationsform der Schule, die finanzielle Ausstattung, Klassengrößen oder reformpädagogische Ansätze.

Vordergründig eine böse Botschaft für viele, die schon lange an einer den gesellschaftlichen Notwendigkeiten und kindlichen Bedürfnissen orientierten Schule arbeiten; eine gute Botschaft hingegen für all jene Ewiggestrigen, die zäh an unserer vorsintflutlichen Schulstruktur festhalten. Aber halt! So war das gar nicht gemeint. John Hattie kommt ohne Botschaft an die Schulideologen aus – gleich welcher Einfärbung. Denn er kümmerte sich ausschließlich um den unmittelbaren Lernerfolg.

Nun geht es aber in der Schule nicht nur darum, den Kindern Wissen einzutrichtern, bis sie womöglich platzen. Ob es uns gefällt oder nicht: Schule ist ein eminent wichtiger gesellschaftlicher Ort, darum auch ein ewiges Schlachtfeld der Ideologen. Es geht in der Schule ganz vorrangig auch um das Training sozialer Kompetenz, der individuellen „exekutiven Funktionen“ etc. Es geht darum, junge Menschen für eine anspruchsvolle Gesellschaft und für ein gelingendes Leben fit zu machen.

Hattie meint ganz und gar nicht, dass Ganztagsschule, kleine Klassen oder Reformpädagogik sinnlos wären, wie manch konservative Parteigänger sofort frohlockt haben. Reformpädagogik etwa fördert unter anderem die Selbstständigkeit und damit den zukünftigen Erfolg in Schule und Gesellschaft. Mit der Ganztagsschule wiederum reagiert man vor allem auf veränderte Bedürfnisse und Bedingungen, an die sich die „Gesellschafts-AG“ Schule im Interesse ihrer Schüler und Eltern nun einmal anpassen muss. Auch das war nicht das Thema von Hattie, zumal er seine Datenbasis ohnehin aus Gesamtschulen bezog.

Was nicht wirkt, ist daher aus seinen Ergebnissen gar nicht herauszulesen, analysierte er doch die Einzelfaktoren des unmittelbaren Lernerfolgs, ohne diese allerdings in Gesamtmodellen miteinander in Beziehung zu setzen. Deswegen muss deren Gewichtung hypothetisch bleiben. Hattie liefert Leitlinien für die Lehrerbildung. Ihn aber als Argument gegen längst fällige Reformen heranzuziehen, ist dumpf-daneben, eigentlich infam. Ein beschämendes Beispiel mehr, wie man hierzulande Wissenschaft instrumentalisiert.

Noch einmal, zum Ausschneiden und An-die-Wand-Hängen: Die Lehrerqualität bestimmt den unmittelbaren Lernerfolg am stärksten. Das wussten wir zwar schon bisher, Hattie präzisierte aber die Attribute dieser Qualität. Das bedeutet aber nicht, dass Schulstruktur und Reformpädagogik unbedeutend wären. Ganz im Gegenteil.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.


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("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2013)

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