Wissenskommentar

Im Land der geistigen Verlotterung? Alarmstufe Gelb!

Der Unesco-Spruch zum Wiener Weltkulturerbe führte zum Wiederaufblühen der Mir-san-mir-Mentalität.

War der Diskurs in Österreich immer schon derart verlottert? So ist es etwa nicht lustig, dass Wien als Weltkulturerbe wegen des Heumarktprojekts von der Unesco auf die „Watchlist“ gesetzt wurde. Denn erstens „gehört“ Wien nicht nur den Wienern, sondern als Bundeshauptstadt allen Österreichern. Die Stadtregierung darf also über ein solches Desaster gar nicht allein entscheiden, auch wenn das legal sein mag.

Zweitens machen sich damit ausgerechnet die Grünen für etwas stark, was dem Geist dieser Partei diametral widerspricht. Das ist ihr Problem, könnte man meinen – wäre das nicht auch gleichzeitig ein Indiz für den demokratiegefährdenden Profilverlust der Parteien. Drittens brachte der Unesco-Spruch wieder jene provinzielle Mir-san-mir-Mentalität zurück, die Kurt Waldheim mit Unterstützung der US-Watchlist einst den Wahlsieg beschert hatte.

Verlotterung auch in anderen Bereichen: So ist es ebenfalls nicht lustig, wenn mit den Islam-, Flüchtlings- und Kindergartendebatten – teils unter Missbrauch von Wissenschaft – immer unverfrorener parteipolitisches Kleingeld gemacht wird. Ähnlich „niveauvolle“ Debatten erleben wir in der Farce zur dritten Flughafenpiste: Als das Verwaltungsgericht dem Umweltschutz Vorrang gab, löste es damit eine Diskussion über das Festschreiben des Staatsziels „Arbeitsplätze“, gleichrangig mit Umweltschutz, aus.

Eine wahrlich trumpoide Verlotterung der politischen Kultur in Österreich! Daraus wird nun aber eh nichts. Und gottlob hat das Verfassungsgericht unter Berufung auf alle Uraltgesetze, die es finden konnte, und unter Ausblenden des Zustands dieser Welt den Spruch des Verwaltungsgerichts gekippt.

Seit 11. September 2001 und verstärkt seit dem Ansturm von Flüchtenden nach Europa entwickeln sich die ehemals liberalen Demokratien durch scheibchenweises Beschneiden ihrer Freiheiten zu Kontrollgesellschaften. Die Methode bleibt immer gleich: Zunächst überhöht man die Anlassfälle, macht etwa Schlagzeilen mit „Panzern an der Brennergrenze“, weil ja bald Flüchtlinge anfluten könnten; oder man „adelt“ einen Irren, der in Linz zwei Pensionisten ermordete, zum IS-Terroristen. Angst schüren, sich dann als Beschützer präsentieren – und gleich wieder ein bisschen die Grundrechte einschränken: unreflektierte Politik oder gezielte Verlotterung? Jedenfalls entwerten Angstmache und mangelnde Zukunftskompetenz die Demokratie.

Sie befördern einen neuen Führerkult, wie jüngste Entwicklungen bei Schwarz und Rot belegen. Dies hängt natürlich auch mit der lange schon mangelhaften Sprach- und Kulturkompetenz der Pflichtschulabsolventen zusammen. Bildungsdefizite begünstigen Diskursverlotterung und beschädigen die Demokratie. So lehnt man in den Meinungsblasen der Chatrooms jene Politik und Politiker ab, die man eigentlich gar nicht kennt. Leute mit Bildungs- und Informationsdefiziten sind eben kaum diskursfähig oder -willig. Und die Bildungspolitik? Selbst angesichts des Dauerdesasters flüchtet sie sich erneut vor allem in Strukturmaßnahmen. Wo doch nur Qualität und Empowerment der Lehrenden das Problem lösen könnten, wie wir alle spätestens seit John Hattie's Megastudie über die Komponenten des Schulerfolgs wissen sollten.

So sehr auch mich der Charme von Kern & Kurz bezaubert: Die neuen Führerkulte sind Indiz dafür, dass wir bereits in einer veritablen Demokratiekrise leben. Alarmstufe Gelb also.

Kurt Kotrschal ist Zoologe an der Uni Wien und Leiter der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle in Grünau.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.07.2017)

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