Bitte fesseln Sie niemals jemanden an den Rollstuhl!

(c) REUTERS (Rafael Marchante)
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Wenn man etwas wirklich nicht mehr hören kann, kann man es eigentlich hören. Man will nur nicht.

Eigentlich stimmt der Satz ja nicht, dass man etwas wirklich nicht mehr hören kann. Denn könnte man etwas wirklich nicht mehr hören, erübrigte sich ja die Klage darüber, dass man es nicht mehr hören kann. Wobei das „können“ am Ende eigentlich für „wollen“ steht – Modalverbenlotto, quasi. Sie kennen das, wenn etwa können statt dürfen eingesetzt wird („Kann ich bis zwölf Uhr auf der Party bleiben?“) oder eben statt wollen. Tatsächlich nicht mehr hören können sollten wir übrigens Redewendungen wie „gefesselt an den Rollstuhl“. Denn die meisten Menschen, die im Rollstuhl sitzen, empfinden ihn als Befreiung, als ein Werkzeug, das sie mobil macht. Der deutsche Aktivist Raul Krauthausen hat es einmal treffend so formuliert: „Wenn du einen Menschen siehst, der an den Rollstuhl gefesselt ist, dann binde ihn los und ruf die Polizei!“

Damit wir etwas nicht mehr hören können, wäre es gut, wenn manche manches nicht mehr sagten (oder schrieben). Oxymora wie „live zeitversetzt“, zum Beispiel. Entweder der ORF strahlt etwas live aus, also in Echtzeit, oder eben erst später. Eine verzögerte Live-Übertragung ist eben nicht mehr live. Sparen könnte man sich im medialen Betrieb auch Formulierungen à la dass jemand „klare Worte findet“, „Klartext spricht“ oder „eine klare Ansage macht“. Die jeweilige Aussage könnte doch ganz einfach für sich stehen. Und wenn hinter der Phrase „ich sage ganz klar“ nur Wischiwaschi kommt, sollten wir sie auch nicht mehr hören können.

In Wahlkämpfen hört man ja besonders viel inhaltsloses Gewäsch, das man einfach nicht mehr hören sollte. „Wir reden nicht, wir handeln“, zum Beispiel. Oder: „Wir sind die Guten.“ Aber gut, das ist wieder ein eigenes Kapitel. Und nach einer geschlagenen Wahl ist man in der Regel froh, manches, was man wirklich nicht mehr hören kann, nicht mehr hören zu müssen.

E-Mails an: erich.kocina@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.08.2019)

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