Zum 140. Geburtstag des Diktators versammelten sich am 21. Dezember am Roten Platz Hunderte Stalin-Anhänger.
Russland

Stalin – das Comeback eines Massenmörders

Der offizielle Blick zurück auf den Stalinismus ist im heutigen Russland ausgesprochen selektiv. Durch Propagierung eines verzerrten Geschichtsbildes versucht das Putin-Regime dabei, das eigene repressive Herrschaftssystem zu rechtfertigen.

Es war ein grauer, nasser, kalter Oktobertag. Dennoch versammelten sich bei einem Denkmal im Zentrum Moskaus nahe der Lubjanka, dem Sitz des früheren sowjetischen Geheimdienstes KGB und dessen heutigen Nachfolgers FSB, ein paar Hundert Menschen. Beim Denkmal für die Opfer des Totalitarismus hielten sie eine Mahnwache, lauschten stundenlang den Namenslisten, die da vorgelesen wurden: „Nikoforow, Georgij Konstantinowitsch, 54, Schriftsteller, Mitglied des Schriftstellerverbands, exekutiert am 2. April 1938. Nikolajew, Axim Maximowitsch, 50, Vorsitzender der Allunionsgesellschaft für Kulturbeziehungen zum Ausland, exekutiert am 15. März 1938...“

Jedes Jahr Ende Oktober, am Tag der politischen Gefangenen, organisiert die russische Menschenrechtsorganisation Memorial die Verlesung von Hinrichtungslisten, die Stalins Geheimdienst NKWD angefertigt hatte. Allein in Moskau waren es Zehntausende, die 1937 und 1938 mit Genickschuss getötet und dann in Massengräbern verscharrt wurden. Jedes Jahr aber machen die Behörden den Veranstaltern, die der Opfer des Stalin-Terrors gedenken wollen, Schwierigkeiten.

Denkmalboom. Keine Schwierigkeiten machen sie hingegen Initiativen, die das Andenken an Stalin hochhalten. Wie jenen Fans des Massenmörders, die Anfang Mai 2019 in Nowosibirsk im Beisein des kommunistischen Bürgermeisters Anatolij Lokot eine Stalin-Büste enthüllten. Wenigstens nicht mitten im Zentrum sollte sie stehen, so bot Lokot einen Platz auf dem Parteigelände in der Bolschewikenstraße an. Als ob Stalin noch lebte: Allein in den vergangenen 20 Jahren sind landesweit mehr als 130 neue Statuen und Gedenktafeln aufgestellt worden. Erst am 21. Dezember versammelten sich 1000 Kommunisten vor Stalins Grab an der Kreml-Mauer, um seinen 140. Geburtstag zu feiern. „Ein Prophet, der allergrößte Organisator unserer Siege“, lobte KP-Chef Gennadij Sjuganow.

Die amerikanische Historikerin und Stalinismus-Forscherin Nanci Adler, die an der Universität Amsterdam lehrt, hat schon mehrere Male an der Mahnwache in Moskau teilgenommen und dabei Namen von Hingerichteten vorgelesen. Vor 15 Jahren war sie noch einigermaßen zuversichtlich, dass sich die russische Gesellschaft allmählich den Schrecken der sowjetischen Vergangenheit stellen könnte und eine Phase der Vergangenheitsbewältigung einsetzt. Diese Zuversicht ist längst verflogen. Heute sieht Adler gleichermaßen „Unfähigkeit, Unwillen und Beschränkungen“ in Russland am Werk, sich mutig mit der stalinistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Folge: „30 Jahre nach dem Kollaps der Sowjetunion werden die Errungenschaften des stalinistischen Systems und von Stalin selbst noch immer – oder wieder – anerkannt und sogar gepriesen“, stellt Adler resigniert fest.

Noch vor Hitlers Überfall auf die Sowjetunion 1941 soll Stalin für den gewaltsamen Tod von 8,5 Millionen Sowjetbürgern verantwortlich gewesen sein: hingerichtete „Konterrevolutionäre“ und Spione, exekutierte „Feinde der Sowjetunion“ und verdächtige Angehörige von Minderheiten, enteignete und dem Hungertod ausgesetzte Bauern, Strafgefangene in Arbeitslagern und Gefängnissen. Bis 2015 gab es in ganz Moskau keine vom Staat aufgestellte Gedenktafel für die Opfer Stalins. Inzwischen existiert ein von der Stadt Moskau gesponsertes Gulag-Museum, in dem aber nicht die Millionen Opfer des Stalin-Terrors, sondern Einzelschicksale in den Blick genommen werden. Es wird auch nicht darauf hingewiesen, dass das Unterdrückungssystem über die Straflager hinaus der Modus Operandi, also die Verfahrensweise der sowjetischen Herrschaft war.

Aber warum der selektive Blick zurück? Professor Adler meint, dass der einäugige Umgang mit Stalin und dem Stalinismus gut zum heutigen russischen Patriotismus à la Putin passt. Zu dem passt Stalin, der Modernisierer, Stalin, der große Sieger im Zweiten Weltkrieg – aber nicht Stalin, der Massenmörder. Die angeblich positiven Seiten des Diktators werden staatlicherseits hervorgehoben – und das stößt bei großen Teilen der russischen Bevölkerung auf positive Resonanz.

Bei einer im April 2019 veröffentlichten Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums attestierten 70 Prozent der Befragten Stalin eine positive Rolle für das Land, 46 Prozent stimmten zu, dass Stalins Unterdrückungspolitik gerechtfertigt war. Und regelmäßig landet Stalin bei Publikumsbewertungen der wichtigsten Persönlichkeiten der russischen Geschichte im Spitzenfeld.

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