Mangroven

Sundarbans: Im Labyrinth des Tigers

Schwer in Bedrängnis von Bevölkerungswachstum, Industrie, Umweltverschmutzung: Auf den 10.000 km2 der Sundarbans leben viele Tierarten – und ein paar Hundert Tiger. 150 Wildhüter können sie kaum schützen.
Schwer in Bedrängnis von Bevölkerungswachstum, Industrie, Umweltverschmutzung: Auf den 10.000 km2 der Sundarbans leben viele Tierarten – und ein paar Hundert Tiger. 150 Wildhüter können sie kaum schützen.(c) imago/blickwinkel (McPHOTO/J. Bitzer)
  • Drucken

An der Grenze zwischen Indien und Bangladesch liegt der größte Mangrovenwald der Erde: die Sundarbans.

„Die Fährte stammt von letzter Nacht“, sagt Tanjilur Rahman und legt seine Hand neben den Pfotenabdruck im trockenen Uferschlamm. Deutlich zeichnen sich dort die mächtigen Pranken eines Tigers ab. Eine Schleifspur ins Gebüsch lässt erahnen, was sich an dieser Stelle wohl erst vor wenigen Stunden abgespielt hat: Die Raubkatze muss einen Axishirsch überrascht und in die Mangroven gezerrt haben. „Die Hirsche sind seine Hauptbeute“, erklärt der Tierfilmer.

Es ist noch früh am Morgen, und der Wald schweigt. Aus einiger Entfernung schaut ein Silberreiher zu, wie der kleine Mann mit dem ergrauten Rauschebart entlang eines zur Ebbe freigelegten Uferstreifens wandert. Wie weit ist der Tiger? „Er kann uns vielleicht gerade sehen, aber wir bekommen ihn höchstwahrscheinlich selbst nicht zu Gesicht“, sagt Rahman. „Die Tiere sind einfach zu schlau und perfekt getarnt.“ Der Bangladescher Naturschützer filmte unter anderem für BBC und Discovery Channel die seltenen Raubkatzen. Jahrelang begleitete er sie durch einen für Menschen kaum zugänglichen Lebensraum. „Einige Kameramänner gaben schon nach den ersten Metern im Schlamm auf“, erzählt er, „ich selbst war manchmal einen ganzen Monat lang unterwegs, um brauchbare Szenen einzufangen.“ Angst vor den großen Katzen kennt er nicht, auch wenn er weiß, dass den Tigern der Sundarbans immer wieder Menschen zum Opfer fallen. „Ein Weibchen, das ich fast drei Jahre lang verfolgt habe, ließ mich bis auf wenige Meter an sie heran.“

Wilderei nimmt überhand

Mehr als 400 Königstiger sollen in den Sundarbans leben, die größte zusammenhängende Population überhaupt. Naturschützer wie Rahman bezweifeln die offiziellen Zahlen. Sie glauben, dass heute weniger als die Hälfte durch das Labyrinth aus Dschungel und Meer streifen. „Die Wilderei nimmt in den letzten Jahren überhand“, sagt Rahman. „Wenn nicht etwas Drastisches passiert, werden wir hier in 30 Jahren keine Tiger mehr haben.“

Die Sundarbans an der südlichen Grenze zwischen Indien und Bangladesch bilden im Mündungsgebiet des Ganges und Brahmaputra den größten Mangrovenwald der Erde. Sein Name wird von den nur hier vorkommenden Sundari-bäumen abgeleitet und bedeutet auf Bengalisch „Schöner Wald“. Mehr als 10.000 Quadratkilometer umfassen die Mangroven des Deltas. Etwa 60 Prozent des Unesco-Welterbes gehören zu Bangladesch. Diese unzugängliche Welt gehorcht allein den Gesetzen der Gezeiten, des Monsuns und der Hochwasser der großen Ströme.

Bangladesch ist ein Land mit bitterer Armut, übervölkerten Städten und unvorstellbarer Umweltverschmutzung. Aufgrund der extremen Lebensbedingungen haben sich die Sundarbans jedoch als ein Biotop von enormer Artenvielfalt inmitten einer der am dichtesten besiedelten Regionen der Erde erhalten. Gemeinsam mit Korallenriffen und Regenwäldern zählen Mangroven zu den wertvollsten Ökosystemen der Welt. Sie stabilisieren Küsten, bilden natürliche Schutzwälle vor Zyklonen und Tsunamis und beugen Überschwemmungen vor.

Wenn Rahman mit dem Motorboot immer tiefer durch die verästelten Arme des Mangrovendschungels vordringt, glaubt man, in eine vom Menschen unangetastete Wildnis aus Wasser und Wald einzutauchen. Entlang der Ufervegetation flattern schillernde Königsfischer. Rhesusaffen turnen durch die Baumkronen. Ein Salzwasserkrokodil späht aus dem gelbbraunen Strom. Das Dickicht am Rand der Wasserarme bildet eine Mauer aus Blattwerk. Einmal stehen die Bäume auf Stelzwurzeln, die in eindrucksvollen Bögen aus dem Schlamm aufragen, einmal stechen ihre Wurzelsporne wie eine Armee aus Stalagmiten aus dem Schlick. So sichern sie in den ständig wechselnden Gezeiten im Kampf gegen Salzwasser und Sauerstoffmangel ihr Überleben.

Vom Wasser auf den Baum

„Innerhalb von sechs Stunden kann das Wasser hier bis zu viereinhalb Metern steigen“, erklärt Rahman, während er in seinem Boot in einen natürlichen Kanal einbiegt. „Das stellt die Fauna und Flora vor ungeheure Herausforderungen.“ Wer mit Rahman durch die Sundarbans reist, lernt einiges über ein hochkomplexes Biotop. „Mangrove ist nicht gleich Mangrove“, erklärt Rahman. Es gibt mehr als 60 Arten, die alle ihre eigene Nische besetzen.“ Durch den trüben Schlamm hüpfen glitschige Wesen mit übergroßen Glupschaugen und kräftigen Vorderflossen – eine Kreatur halb Fisch, halb Frosch. „Schlammspringer“, sagt Rahman, „sie sind in der Evolution stecken geblieben, aber perfekt an das Leben hier angepasst. Bei Flut können sie sogar auf Bäume klettern.“ Aus Millionen kleiner Löcher lugen winzige Krabben. „Ihre unterirdischen Gänge sind wie Sauerstoffadern für die Mangroven“, sagt Rahman. „Wir können nicht einfach sagen: „Rettet die Tiger!“, und dabei die Krabben ganz vergessen. Alles hängt hier miteinander zusammen.“

Durch das rasante Bevölkerungswachstum rund ums Schutzgebiet sind die Sundarbans zunehmend bedroht. Immer mehr Wilderer dringen ein und jagen Hirsche und Tiger. „Nur 150 Wildhüter sollen hier ohne moderne Ausrüstung ein Gebiet von 6000 Quadratkilometern überwachen“, sagt Rahman. „Wie soll das funktionieren?“ Gleichzeitig bedrohen illegaler Holzschlag und industrielle Garnelenzucht das Ökosystem. Für die Shrimpsfarmen wird weiter Wald gerodet. Ihre stark salzhaltigen und zum Teil mit Pestiziden und Antibiotika verseuchten Abwässer verunreinigen das ohnehin knappe Trinkwasser. „Für mich kommt jede verzehrte Garnele einem gefällten Sundarbaum gleich“, sagt Rahman. Noch folgenreicher dürften der Anstieg des Meeresspiegels und die zunehmende Versalzung weiter Brackwassergebiete sein. Der steigende Salzgehalt im Mangrovengebiet ist auch auf die hohe Ableitungen von Süßwasser aus dem Ganges für die Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen vor allem in Indien zurückzuführen.

Von der Gabelung eines Wasserwegs tönt aufgeregtes Quieken. Eine Gruppe Fischer hat auf ihren Holzkahn einen Käfig aus Bambusstäben geladen. An zwei Angeln sind Fischotter angeleint. Einige weitere Tiere schwimmen daneben frei umher. Spielerisch treiben sie durchs trübe Wasser. Seit Jahrhunderten wurden in Südasien Otter zur Fischerei eingesetzt. Heute ist diese traditionelle Art der Jagd nur noch in den Sundarbans lebendig. Die Otter jagen Fische in ein ausgespanntes Netz, das blitzschnell ins Boot gezogen wird. Nur die großen Fische werden eingesammelt. Beifänge verfüttern sie als Lohn an ihre Tiere. So gilt das Jagen mit Ottern – im Gegensatz zur industriellen Fischerei – als nachhaltig.

„Es sind nur noch wenige Familien, die Otter halten“, sagt einer der Fischer im Lungi, dem traditionellen bengalischen Wickelrock, „es ist harte Arbeit, und viele aus unserem Dorf sind längst auf moderne Netze umgestiegen.“ Wie viele Bewohner der Sundarbans klagt er über die Wasserverschmutzung und den Rückgang der Fischbestände. „Früher kamen wir mit vollen Booten nach Hause, heute sind wir viel länger unterwegs und fangen weniger. Die Jungen suchen sich lieber anderswo Arbeit, wo sie schneller Geld verdienen können.“

„Die einheimischen Fischer haben über Generationen gelernt, die Sundarbans zu bewahren“, sagt Rahman. „Doch anderswo scheint man den Ernst der Lage nicht zu erkennen. Was hilft's, wenn wir uns Unesco-Welterbe nennen, aber niemand die Zerstörung aufhält?“

Immer wieder kritisieren Naturschützer den Bau von Dämmen und Industrieanlagen entlang von Ganges und Brahmaputra. Zuletzt sorgte der Plan, ein neues Kohlekraftwerk am nördlichen Rand der Sundarbans zu bauen, für scharfe Kritik. Demonstranten in Bangladeschs Hauptstadt, Dhaka, wurden mit Wasserwerfern auseinandergetrieben. „Die Sundarbans gehören nicht Bangladesch allein“, sagt Rahman. „Wenn wir den Mangrovenwald zerstören, hat das Auswirkungen auf die ganze Welt.“

Am südlichen Rand steuert am nächsten Morgen Malcolm Turner ein Zodiac in einen Seitenarm des Deltas. An Bord hat der australische Biologe Touristen aus aller Welt. Sie sind mit einem Expeditionsschiff über Sri Lanka und die Andamanen nach Bangladesch gekommen. Die Silver Discoverer ist das erste Kreuzfahrtschiff überhaupt, das die Sundarbans ansteuert. Vorn im Boot sitzt ein Wildhüter mit buschigem Bart und einem Holzgewehr im Anschlag – der Tiger wegen. Man weiß ja nie.

Ölschlick trieb kilometerweit

Noch liegt Dunst über dem Mangrovenwald. Nur langsam kriecht die milchgelbe Sonne aus den Wipfeln der Sundarbäume. Aus dem Ufergestrüpp tönt ein heiseres Krähen. „Nein, kein Hühnerhof“, scherzt Turner, „Wilde Bankivahähne, die Ahnen unserer Haushühner.“ Als Ornithologe hält er mit dem Fernglas Ausschau nach seltenen Vögeln. Mehr als 270 Arten kommen hier vor. An Bord der Silver Discoverer hielt Turner vor Ankunft in den Sundarbans einen Vortrag über das bedrohte Welterbe. An die Wand warf er apokalyptische Bilder von verendeten Wasservögeln und Delfinen nach einer verheerenden Ölkatastrophe. Ein Tanker war im Dezember 2014 mit einem anderen Schiff kollidiert. Ein großer Teil der 350.000 Liter Schweröl an Bord breitete sich entlang der Küste der Sundarbans aus. Die Flut trug den schwarzen Schlick bis in kilometerweit entlegene Mangrovenarme. Turner arbeitete mehr als 30 Jahre für verschiedene Meeresschutzgebiete in Australien und war am Great Barrier Reef auch für die Überwachung der Seevögelbestände und den Kriseneinsatz bei Schiffsunglücken zuständig. Als Gesandter der australischen Regierung beriet er auch bei Tankerunglücken im Ausland und half bei der Erstversorgung verölter Meeresvögel.

„Es fällt schwer, bei dem zunehmenden Druck auf die Meere ein Optimist zu bleiben“, sagt der Biologe, „gerade die Mangroven werden immer weiter zerstört, obwohl wir wissen, wie bedeutend sie für den Schutz vor Stürmen und Überschwemmungen sind. Auch in den Sundarbans nimmt der Schiffsverkehr zu und damit das Risiko für weitere Katastrophen.“ Plötzlich taucht vor dem Zodiac die Rückenflosse eines Delfins auf. Turner schaltet den Motor aus. „Ein Gangesdelfin!“, ruft er begeistert. Immer wieder erscheint der graue Körper für Sekunden an der Wasseroberfläche. Der blinde Delfin ist gerade auf Jagdzug. Seine Beute, Fische und Garnelen, erwischt er allein durch Echoortung. Er gehört zu den Letzten seiner Art. Wahrscheinlich gibt es nur noch wenige Hundert der Delfine in Südasien. Die meisten von ihnen wohl in den Sundarbans. Einer seiner nächsten Verwandten, der Chinesische Flussdelfin, der einst überall im Jangtse und seinen Seitenarmen zu Hause war, gilt als ausgestorben. Er hat die Industrialisierung Chinas nicht überlebt. „Nur wenige Menschen haben heute das Privileg, einen Gangesdelfin mit eigenen Augen zu sehen“, sagt Turner. Bonbibi, die Schutzgöttin der Sundarbans, meint es an diesem Morgen besonders gut mit dem Biologen. Bei der Rückkehr zur Silver Discoverer taucht auf einmal auch noch eine Gruppe Irawadidelfine vor dem Boot auf. Wegen ihrer gedrungenen Form und den runden Köpfen werden die Tiere auch manchmal Flussschweine genannt. Auch diese Art gilt inzwischen als vom Aussterben bedroht. „Ich kann unser Glück kaum fassen!“, jubelt Turner. „Wir hatten gleich zwei der seltensten Delfinarten der Welt im Fahrwasser! Was macht es da schon aus, dass sich die Tiger nicht blicken lassen wollten.“

Im Mangrovenwald

Hin: Z. B. mit Air India (www.airindia.com) oder Sri Lankan Airlines (www.srilankan.com) über Neu-Delhi bzw. Colombo nach Kolkata oder Dhaka.

Expeditionskreuzfahrten: Als erstes Kreuzfahrtschiff überhaupt machte die Silver Discoverer in den Sundarbans Station. www.silversea.com

Sundarbarns-Touren: Der Bangladescher Veranstalter Pugmark Tours and Travels bietet als eines der wenigen ein- heimischen Ökotourismusunternehmen vom Tagesausflug bis zur zweiwöchigen Expedition verschiedene Touren in die Sundarbans an. www.pugmarkbd.com

Kreuzfahrt und Expedition im Golf von Bengalen bei Windrose Finest Travel, www.windrose.de, +49/(0)30/20 17 21-23.

Infos: Bangladesh Tourism Board, https://visaguide.world/asia/bangladesh-visa/.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2019)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.