Überall lungern Deuter herum

Rückschau eines alten Mannes auf sein literarisches Leben: Martin Walsers Textsammlung.

Das Titelblatt verweigert eine Auskunft. Welcher Gattung gehören die hier versammelten kurzen Texte an? Teils gleichen sie Gedichten, teils Aphorismen, teils Entwürfen oder Aufzeichnungen aus einem Notizbuch. Sie sind nicht datiert. Ob sie erst jüngst geschrieben wurden oder aus dem unveröffentlichten Fundus des nunmehr 91-jährigen Martin Walser stammen – wir wissen es nicht. Nur in den wenigen Fällen, in denen Walser mit namentlich genannten Gegnern abrechnet, können wir ahnen, wann sie in etwa entstanden sind. Lebensklugheit, anhaltende Streitlust und lyrische Impressionen halten sich die Waage.

„Spätdienst“ ermöglicht Wiederbegegnungen mit Haltungen, die dem Walser-Leser vertraut sind. Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden: „Ich möchte aus Marmor sein, und wenn sie mich schlügen, glänzte ich.“ Das Misstrauen gegen die Interpreten: „Geheimnisse entstehen zu lassen lohnt sich. Überall lungern Deuter herum.“ Manchmal schimmert der sozialkritische Schriftsteller durch, der Martin Walser in seiner Jugend war: „Die, die fünf Mark verdienen pro Stunde, verstehen einander, und die, die 500 verdienen, verstehen einander auch. Wer wen versteht, das ist kein Sprachproblem.“ Dass von Mark und nicht von Euro die Rede ist, könnte als Hinweis auf eine Entstehungszeit vor 2002 gelten. Ein Gedicht beginnt mit „Ich bin sechzig“. Wenn das keine Mystifikation ist, ist der Vers mehr als 30 Jahre alt.

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