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„Der Scharlach hat uns gerettet“

„Es hat mich interessiert, wer die Straße auf und ab geht.“ Kurt Lauer.
„Es hat mich interessiert, wer die Straße auf und ab geht.“ Kurt Lauer.(c) Kellermann
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Der Wiener Kurt Lauer „segelte“ 1939 als Zehnjähriger nach Amerika „ab“. In Philadelphia saß er den ganzen Tag am Fenster und betrachtete „die große Straße, die Girard Avenue“. Sein altes Wien vermisst er noch immer. Ein Besuch in New York.

Die Wiener Nazis haben den Müllner Tempel umgerissen“, sagt der alte Herr. „Der Tempel in der Seitenstettengasse blieb als einziger erhalten, weil er ein Wohnhaus war. Bei einer Brandlegung hätten sie sonst ihre eigenen Mieter verbrannt.“ Der 91-jährige Kurt Lauer sitzt in seinem riesigen Ledersessel in einem Vorort von New York, eine halbe Stunde mit der Metro Train North den Hudson River hinauf. Nachdenklich schaut er auf das Gewusel der fünf Hunde vor seinen Füßen. In seinem Kopf hat er sein geliebtes Wien nie verlassen. Jeden Tag denkt er sehnsüchtig daran. Abends muss man mit ihm Wien-Quiz spielen. Trotz schlechter Erfahrungen als Kind: „Gehen Sie nicht auf die Taborstraße, denn da jagt und fängt man Juden, warnte uns ein Passant, als wir einmal das Haus meiner Tante verließen. Wir liefen sofort zum Taxistand am Augarten.“ Doch auch auf der Straße am Augarten wurden „Juden in die Elektrische eingezwungen“, und das Taxi fuhr schnell in die andere Richtung, „sodass wir entkommen sind“. Sein Vater werkte für einen späteren Hitler-Attentäter. „Mein Vater arbeitete als Anwalt mit österreichischer Lizenz für den deutschen Rechtsanwalt Alfred Etscheit. Herr Etscheit war dabei, als man eine Aktentasche mit einer Bombe bei Hitler zurückließ. Die explodierte, aber Hitler war nicht mehr im Zimmer, es hat nichts genutzt. Etscheit wurde eingesperrt und erschossen.“ (Laut Wikipedia starb Alfred Etscheit nach seiner Haft im KZ Ravensbrück 1944 im KZ Flossenburg.) Der Schweizer Konsul, ein Freund des Vaters, warnte die Familie eindringlich vor Verfolgungen, und sie „wanderte schon 1938 nach Zürich aus“.

Das geliebte Wohnhaus.
Die Erinnerungen eines Zehnjährigen sind sehr spezifisch – sein schönes Deutsch, gespickt mit altmodischen Ausdrücken, auch. „In der Nähe des Stephansdoms stand die Konditorei Kühne. Gibt es die noch? Die Tochter Kühne besuchte mit mir die Volksschule in Zürich. Die Frau, der die Ottakringer Brauerei gehörte, für die mein Vater als Anwalt arbeitete, zog wegen den Nazis sofort von Wien aus und nahm sich im Plaza Hotel in New York eine Wohnung. Den Doktor Achenzug hat man im zehnten Bezirk auf die Straße gelegt, er musste die Steine putzen. Das Putzen hat ihm nicht besonders gefallen, und er zog sofort von Wien nach New Jersey aus.“ Jeden einzelnen Tag kommt die Rede auf seine drei Tanten. Die eine Tante wurde, genauso wie ihr Ehemann, im Konzentrationslager ermordet. Die zweite wurde Opfer eines Heiratsschwindlers. („Sie ging nach der Hochzeit hinaus, und man sagte ihr, der Mann sei nicht mehr da. Man sah ihn nie wieder.“) Diese Tante überlebte als Dienstmädchen eines Arztes in Budapest. Die dritte pendelte später zwischen Palästina und New York. Immer wieder kreist Kurt Lauer in Gedanken auch um die Wiener Döblinger Hauptstraße und um die „Elektrische G2“. Bei jedem Besuch stand er im Rollstuhl vor seinem alten Wiener Kinder-Wohnhaus und betrachtete es stundenlang von außen. „Mein Vater kaufte unser Haus gemeinsam mit Doktor Silber, der es später verkaufte. Silber ist noch vor uns nach New York. Unsere Wiener Nachbarn, die Familie Zoch (Toch?), machten später in New York Selbstmord. Er war ein Wurstecken-Händler. Nein, wir haben das Haus nicht zurückbekommen. Geben Sie mir den Gehsessel“, sagt er und schreitet resolut davon.

Gruselige Begegnungen. „Einmal starrte mich ein Mann in dem Biersalon in unserem Hause lange an. Das war mir unangenehm“, erzählt das „alte Kind“ plötzlich am nächsten Tag. „Ich habe nichts gesagt, aber es war dieser Mann, der später unsere Wohnung übernahm. Ein Nazi.“ In seinem Haus in der Döblinger Hauptstraße gab es nämlich unten ein Lokal und eine Bierhandlung. „Mitten beim Essen habe ich gesehen, wie er hereinkam, er setzte sich hinten nieder, ohne etwas zu bestellen. Er war ein Nazi-Gast. Er hat mich sofort erkannt.“ Als was erkannt? Als Jude? Der Junge fragte die Tante, mit der er im Gasthaus war, nicht um Unterstützung. Warum? „Dieser Nazi hat mir nichts getan, er hat mich nur angestarrt. Ich wollte mich sogar umdrehen, wegen seiner Blicke. Wir hatten eine schöne Wohnung mit vier Zimmern.“ Seinen Eltern erzählte er nichts, so wie er auch nie fragte, warum sie wegmüssen und was diese Nazis eigentlich gegen Juden hätten. Er hinterfragte nicht, er beobachtete. Ein Zehnjähriger eben, der seine Beobachtungen für sich behält und allein in seinem Inneren verwahrt. „Man hat mir gar nichts erklärt, und das war es“, sagt er heute. „Man hat doch gewusst, man muss weggehen, sonst wäre man ins KZ gekommen.“ In Zürich lernte er Akkordeon spielen, und weil er in der Schule so „sekkiert“ wurde, „stieg ich aus der Schule aus und befasste mich mit Billardspielen“.

Es sollte nur eine Durchgangsstation bleiben: „In Zürich waren viele Flüchtlinge aus Wien. Manche wurden in der Nacht von der Fremdenpolizei verhaftet, einige sind zurückgekehrt. Wir waren vollkommen legal, doch das Visum für Amerika erhielt alleine mein Bruder.“ Über die Station Paris ist die ganze Familie „nach Amerika abgesegelt“ – der Vater schaffte es, seine Eltern und Schwestern nachzuholen. „Dass wir es überstanden haben, war ein Wunder“, ist sein Resümee.

Lautsprecher an jeder Ecke.
In Wien war es schon vorher einmal knapp mit dem Entkommen. Zwei Geheimpolizisten lasen das große Schild, das auf der Wohnungstür prangte: „Achtung, Scharlach. Kommen Sie nicht hinein, sonst werden Sie krank.“ Kurt Lauer dazu: „Der Scharlach hat uns teilweise gerettet. Im August war der Scharlach vorbei, am ersten September sind wir weggefahren.“ Zu diesem Zeitpunkt waren in Wien schon an jeder Ecke Lautsprecher aufgestellt, um die Reden Hitlers zu hören.

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