Nach 150 Jahren: Die deutsche Steinkohleförderung ist Geschichte

Ehemaliges Steinkohlenbergwerk Gneisenau
Ehemaliges Steinkohlenbergwerk GneisenauImago
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Die letzten beiden Zechen schließen. Nach mehr als 150 Jahren industrieller Steinkohleförderung verschwindet eine Traditionsbranche aus Deutschland.

"...Im Westen - sagen die Deutschen - da riecht es nach Ruß und Geld, nach Hütte und Kohlenstaub, nach den Abgasen der Kokereien, den Dämpfen der Chemie - und es riecht nach Macht." Als der spätere Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll dies 1957 zu einer Fotoreportage über das Revier schrieb, kochte der Pott auf Höchsttemperaturen.

Fast eine halbe Million Menschen arbeiteten im Ruhrbergbau - so viele wie nie zuvor und nie wieder danach. Das Ruhrgebiet lieferte die Energie und den Stahl für das deutsche Wirtschaftswunder.

60 Jahre später dürfte kaum noch jemand die Städtelandschaft zwischen Duisburg und Dortmund mit Macht und Geld in Verbindung bringen. Der Himmel über der Ruhr ist längst wieder blau – und nicht rußig. Am Ende dieses Jahres ist auf der letzten von einst rund 150 Zechen im Revier für immer Schicht im Schacht.

Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird am 21. Dezember zur Zeche Prosper-Haniel nach Bottrop kommen, wenn dort symbolisch der letzte Förderwagen mit Kohle ans Tageslicht kommt. Es wird ein historischer Moment, denn nach mehr als 150 Jahren industrieller Steinkohleförderung verschwindet eine Traditionsbranche aus Deutschland. Ein Schicksal, das die Braunkohle, um deren Zukunft gerade erbittert gerungen wird, noch vor sich hat.

Geprägt wird die Erinnerung an die Kohle von ihrer großen Zeit in der jungen Bundesrepublik Deutschland. "Man kann sagen, dass unser Bild vom Bergbau vor allem durch die erfolgreiche Zeit der 1950er Jahre bestimmt ist. Damals erhielt er das positive, teilweise heroische Image, das ihm bis heute zu eigen ist", sagt Heinrich Theodor Grütter. Er leitet das Ruhrmuseum auf der zum Weltkulturerbe aufgestiegenen Zeche Zollverein in Essen. Grütter steht auf dem Dach der ehemaligen Kohlenwäsche und zeigt mit weit ausholender Geste über das riesige Gelände der Zeche, die einst als leistungsfähigstes Bergwerk der Welt galt.

"Der Kohlehunger war immens, Arbeitskräfte wurden gesucht, Bergleute verdienten Spitzenlöhne wie heute bei VW oder Daimler", beschreibt Grütter die Zeit, als Kohle noch schwarzes Gold war. Bis zu 8.000 Menschen arbeiteten einmal auf Zollverein. Die Zahl der heute noch aktiven Bergleute ist auf eine überschaubare Gruppe geschrumpft. Auf Prosper-Haniel und der zweiten zum Jahresende schließenden Zeche in Ibbenbüren im Münsterland arbeiten noch rund 3.500 Bergleute.

Andreas Stieglan ist einer von ihnen. Wer zu seinem Arbeitsplatz will, muss mit dem Förderkorb 1260 Meter tief in die Erde fahren. Zwölf Meter pro Sekunde rauscht der Korb den Schacht hinunter. Von einem unterirdischen Bahnhof geht es mit der Dieselkatze, einer Hängebahn, Kilometer weit in den Berg. Es riecht nach feuchter Erde und Ruß. Viele Arbeiter sieht man nicht mehr. Die Fahrt endet an einem riesigen Hobel, der die Kohle aus dem Gestein fräst. Stieglan hat an dem Ungetüm jahrelang als Aufsichtshauer gearbeitet. Er war für die Abläufe in seiner Schicht verantwortlich.

Rund 1,8 Millionen Tonnen abgebaut

Der Hobel steht schon seit dem Sommer still. Die Kohlemenge, für die der Bergbau noch Subventionen erhält, war gefördert. Rund 1,8 Millionen Tonnen haben die Bergleute auf Prosper-Haniel in diesem Jahr noch abgebaut, in den 1950er-Jahren waren es im gesamten Ruhrgebiet mehr als 100 Mal so viel. Für den sinkenden Verbrauch der Kohlekraftanlagen und Stahlwerke in Deutschland hat die heimische Steinkohle schon seit längerem kaum noch Bedeutung. Im Vorjahr stammten rund 90 Prozent der verfeuerten Steinkohle aus dem Ausland.

Stieglans Gesicht ist von Kohlestaub verschmiert. Die Arbeitsjacke hat der 47-Jährige wegen der Hitze längst ausgezogen. Seine Knie stecken in orangefarbenen Kunststoff-Schalen. Aufrecht stehen kann er im Streb nicht, vieles muss im Knien gemacht werden - bei Lärm, Staub, Temperaturen an die 30 Grad und extrem hoher Luftfeuchtigkeit. "Das Hemd klebt eigentlich immer am Körper", beschreibt Stieglan die Arbeitsbedingungen. "Der ständige Zug ist das Unangenehmste." Groß beklagen will sich Stieglan aber nicht. Jammern gilt in der wortkargen Männergesellschaft unter Tage nicht.

Kohleabbau war bis zum Schluss auch Handarbeit – vor allem da, wo die großen Maschinen nicht hinkommen. "An schwierigen Stellen muss man den Bohrhammer nehmen – 20 Kilo schwer", erzählt Stieglan, als er später in Jeans und T-Shirt im Kauengebäude sitzt. Kaue nennen die Bergleute ihre Umkleideräume - auch so ein Wort, das zusammen mit der Kohle verschwinden dürfte. Die Schaufel gehörte ebenfalls bis zum Schluss zum Alltag. Das geht auf die Knochen. Trotzdem war es für ihn der Wunscharbeitsplatz. "Bergmann war das, was ich werden wollte. Dabei ist es immer geblieben." Jetzt trägt er die Kohle mit zu Grabe.

Stieglan stammt nicht aus einer der typischen Ruhrgebietsfamilien, in der Großvater, Vater und Sohn unter Tage gearbeitet haben. "Ich bin der einzige Bergmann in der Familie", erzählt der drahtige Mann. Angefangen hat er 1987 mit der Lehre auf der Zeche Monopol in Bergkamen. Da war das Zechensterben längst in vollem Gange. Dass aber einmal ganz Schluss mit der Kohleförderung sein könnte, hat von den damals noch fast 120.000 Bergleuten kaum jemand geglaubt.

Niedergang begann 1958

Begonnen hatte der Niedergang schon 1958, als Millionen Tonnen Kohle und Koks unverkäuflich auf den Halden lagen. Das Öl lief der Kohle beim Heizen von Häusern und Wohnungen mehr und mehr den Rang ab. Später kam die deutlich billigere Importkohle hinzu, die in Australien oder Kanada unter viel einfacheren Bedingungen und zu niedrigeren Kosten abgebaut werden kann. In immer kürzeren Abständen wurden im Revier Zechen stillgelegt. Großdemonstrationen von Bergleuten mit schwarzen Fahnen schreckten die Republik auf.

Auf Druck der Politik und der Bergarbeitergewerkschaft schlossen sich die Bergwerksbesitzer schließlich am 27. November 1968 zur Ruhrkohle AG zusammen. Die Fusion der damals noch fördernden 52 Schachtanlagen gilt als erster wichtiger Schritt des geordneten Rückzugs des deutschen Steinkohlebergbaus. Ein Ausstieg, der schließlich 50 Jahre dauerte und viele Subventionsmilliarden kostete.

Wie viele, das lässt sich wohl nicht ganz genau sagen - über Subventionen reden Politik und Unternehmen nicht gerne. Als das Essener Wirtschaftsforschungsinstitut RWI 2005 nachrechnete, standen unter dem Strich fast 130 Mrd. Euro. "Das waren vor allem Absatzhilfen, um die teure deutsche Steinkohle überhaupt verkaufen zu können", sagt der an der Untersuchung beteiligte Energieökonom Manuel Frondel. Inzwischen, schätzt der Experte, "dürften wir uns auf rund 200 Mrd. Euro an Subventionen zubewegen, die geflossen sind und noch fließen".

Dass der Bergbau über Jahre so massive Unterstützung erhielt, führt Frondel auf eine große Pro-Kohle-Koalition zurück. "Politik, Bergbauunternehmen und Gewerkschaft haben eine Interessengemeinschaft zulasten der Stromverbraucher und der Steuerzahler gebildet", meint er. Hinzu komme, dass sich die Region mit dem Bergbau identifiziert habe. "Der Bergbau ist eben eine sehr emotionale Branche." Deshalb habe es die Politik schwer gehabt, die Bevölkerung von der Notwendigkeit zu überzeugen, "dass man sich von diesem Wirtschaftszweig verabschieden muss". Ohne die Subventionen wäre "der Strukturwandel an der Ruhr sehr viel schneller in Gang gekommen".

"Das hat zum Zusammenbruch ganzer Industrien geführt"

Ganz anders sieht das Stefan Berger, der an der Ruhr-Universität das Institut für soziale Bewegungen leitet. "Nirgends auf der Welt ist der Strukturwandel schwerindustrieller Ballungsregionen vergleichsweise so gut gelungen wie im Ruhrgebiet", ist Berger überzeugt. Er vergleicht die Entwicklung an Ruhr und Emscher mit den Montanregionen in Großbritannien und den USA. Dort habe man die Umstrukturierung den Märkten überlassen. "Das hat zum Zusammenbruch ganzer Industrien innerhalb kurzer Zeit und im schlimmsten Fall zu Geisterstadt-Phänomenen geführt, wie wir sie aus Detroit, aber auch aus den Montanregionen im Norden Englands und in Südwales kennen."

In Westdeutschland sei dagegen der "rheinische Kapitalismus" mit seiner starken Stellung der Gewerkschaften relativ gut in der Lage gewesen, den Umbruch planvoll zu steuern. "Das hat zu einem sozial sehr verträglichen Strukturwandel geführt", sagt Berger.

In kaum einer anderen Branche hat die Gewerkschaft eine so starke Stellung gehabt wie im Steinkohlebergbau. Wenn es hart auf hart kam, zogen Bergleute in Unterhosen und der Parole "Kanzler hier mein letztes Hemd" zum Bonner Regierungsviertel, um Subventionskürzungen abzuwehren. Als die Gewerkschaft schließlich 2007 doch dem Ende des Bergbaus zustimmen musste, konnte sie heraushandeln, dass die Bergleute nach 25 Jahren unter Tage mit 50 in Rente gehen dürfen.

Vergleicht man das Revier aber mit anderen Regionen in den westlichen Bundesländern, ergibt sich ein anderes Bild. Trotz aller Förderprogramme, der Gründung von Universitäten und Hochschulen mit inzwischen rund 280.000 Studierenden und gelungenen Unternehmensansiedlungen ist der Strukturwandel im Revier einer Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft nach "insgesamt nicht durch ausreichende Erfolge im Aufbau neuer, wachstumsstarker Branchen" geprägt. Das ehemalige industrielle Herz Deutschlands sei inzwischen eine Region mit unterdurchschnittlichem Industrieanteil an Beschäftigung und Wertschöpfung.

Das hat Folgen für die Arbeitslosenzahlen, die rund doppelt so hoch sind wie im deutschen Durchschnitt. In Dortmund, wo auch Stahlindustrie und Brauereien weitgehend verschwunden sind, sank die Arbeitslosenquote im Oktober zum ersten Mal seit den 1980er-Jahren unter die Marke von 10,0 Prozent - 30 Jahre nach der Schließung der letzten Zeche dort. "Die strukturelle Arbeitslosigkeit in Dortmund - wie im gesamten Ruhrgebiet - bleibt auch heute noch die größte Herausforderung", heißt es bei der örtlichen Agentur für Arbeit.

Bergbau bleibt Ruhrgebiet erhalten

Auch wenn der Bergbau bald endgültig Geschichte ist, er bleibt dem Ruhrgebiet erhalten. Nicht nur wegen der vielen liebevoll restaurierten Bergarbeitersiedlungen und der zu Museen und Veranstaltungshallen gewordenen Zechengebäude. Die Bergleute haben die Landschaft umgewälzt. Davon zeugen die großen Halden, auf denen lagert, was mit der Kohle aus der Erde geholt wurde. Als begrünte Hügel sind sie jetzt Freizeitziele.

Große Teile des Ruhrgebiets haben sich durch den Kohleabbau abgesenkt, in extremen Fällen bis zu 25 Meter und mehr. Damit sich in den Senken kein Wasser sammelt und das Revier zu einer Seenplatte wird, müssen die Wasserströme auf Dauer mit Hunderten Pumpen reguliert werden. "Ewigkeitslasten" heißen diese und andere Aufgaben, die auch bleiben, wenn die letzte Zeche geschlossen ist. Pro Jahr sind dafür geschätzt 220 Mio. Euro nötig, die der Bergbau über eine Stiftung selbst aufbringen muss.

Die Branche werde zudem noch lange "ein wesentlicher Aspekt der Identität" des Reviers bleiben, sagt Hans-Christoph Seidel vom Haus der Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum. Die positive Identifikation mit der Montanindustrie werde sogar "stärker, je mehr Bergbau und Stahl abnehmen", haben die Geschichtsforscher beobachtet. Die gefährliche Arbeit habe die Mentalität der Menschen im Revier bis heute geprägt, meint auch Museumsdirektor Grütter: "Die Werte des Bergbaus wie Solidarität und Zusammenhalt sind in der DNA der Region verankert." Auch die Integration von Millionen Zuwanderern habe vergleichsweise gut funktioniert, denn "im Ruhrgebiet war ja quasi jeder ein Fremder".

Und Hauer Stieglan? Der muss mit seinen Kollegen noch das tun, was in der Bergmannssprache "rauben" heißt. Was noch brauchbar ist, wird ausgebaut und nach oben gebracht. Das ganze nächste Jahr dauert das Aufräumen unter Tage wohl noch. Dann ist auch für Stieglan endgültig Schluss, weil er das Alter erreicht hat, mit dem Bergleute in Rente gehen dürfen. Pläne für die Zeit danach hat er schon gemacht, ungewöhnliche für einen Bergmann aus dem Ruhrgebiet: "Ich möchte nach Schweden auswandern", sagt er ohne Zögern. Wegen der vielen Natur, und wegen seiner beiden Schlittenhunde, die viel Auslauf brauchen. Also spürt er keine Wehmut, wenn er an seinen Abschied von der Kohle denkt? "Kommt noch", sagt Stieglan.

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