Akte X – Der unheimliche Fall von Google Glass

  • Drucken

Die Geschichte der Google Glass ist voll von Geheimnissen. Sie reicht von Euphorie bis zu Orwellschen Bedenken. Obwohl selbst der Google-Finanzvorstand die smarte Brille als Flop bezeichnete, feierte sie eine Wiederauferstehung.

Die Gerüchte über ein geheimnisvolles Wissenschaftslabor irgendwo in Kalifornien wollen 2011 nicht abreißen. Monatelang verfolgen die beiden New York Times Autoren, Claire Cain Miller und Nick Bilton, jede mögliche Spur, bis im November die Recherchen weit genug gediehen sind, um die Story an die Öffentlichkeit zu bringen. Unter Berufung auf nicht namentlich genannte Insider berichten Miller und Bilton von Google Forschern – insbesondere Experten für Robotik, Künstliche Intelligenz und Mensch-Maschine-Schnittstellen -, die in einer Einrichtung namens Google X rund um die Uhr damit beschäftigt sind, eine Liste von 100 Science-Fiction-Projekten abzuarbeiten.

Auf der Agenda sollen unter anderem die Entwicklung von Weltraumaufzügen oder Telepräsenz- und Kartographie-Robotern stehen, die Street-View-Aufnahmen per Autopilot machen. Speziell die Vernetzung von Gegenständen werde vorangetrieben. Der Kühlschrank bestellt Lebensmittel im Internet, der Teller teilt per Social Network mit, was es zum Abendessen gibt, und ein Roboter geht arbeiten, während sein Besitzer daheim im Pyjama sitzt – all das werde im Labor erprobt und perfektioniert. Zitiert werden von Miller und Bilton zwei anonyme Informanten, wonach Google noch vor Jahresende ein im Labor X entwickeltes Produkt präsentieren möchte. Um was es sich handelt, bleibt zunächst unklar.

Das Geheimnis wird gelüftet.

Die New York Times mutmaßt, dass die Google Granden Sergey Brin, Eric Schmidt und Larry Page aktiv involviert sind. Beim Unternehmen selbst dementiert man halbherzig. Eine Konzernsprecherin will vom Begriff Google X nichts gehört haben, meint aber, dass Forschung an spekulativen Projekten zur normalen DNS des Unternehmens gehören. Die investierten Summen seien jedoch recht klein im Vergleich zu den Forschungsausgaben im Kerngeschäft.

Die Zukunft der Menschheit mitentscheiden.

Wenige Monate später mutiert das Dementi zur Marketingoffensive. „Wir wollten die Welt schon immer radikal verändern, so schnell und so umfassend wie möglich. Das Unternehmen Google X wird dazu einen Beitrag leisten, die Zukunft der Menschheit mitzuentscheiden“, heißt es in einer Presseaussendung von Brin und Page. Klar ist nun auch, welches geheimnisvolle Produkt aus der Forschungsschmiede die Welt als erstes bereichern soll. Im April 2012 teilt das Unternehmen über Google Plus mit, dass die Testphase an einer Computerbrille erfolgreich begonnen hat. Der Name: Google Glass.

Die Augmented Reality-Revolution.

Noch im gleichen Monat wird ein Konzeptvideo der neuen Hightech-Brille freigegeben. Zu sehen ist eine mit einem Mikrodisplay ausgestattete Brille, die es dem Träger über integrierte Kommunikationstechnik ermöglicht, unterwegs online zu sein – etwa um Navigationshinweise über Google Maps abzufragen, Youtube zu konsumieren, Videokonferenzen und Telefonate zu führen oder über die eingebaute Kamera Fotos und Videos aufzuzeichnen und zu verschicken. Aktionsbefehle werden der Brille per Touch-Funktion oder Stimme erteilt. Die Testphase sei laut Google bereits voll angelaufen.

Das Smartphone ersetzen.

Am 28 Juni 2012 wird Google Glass im Rahmen der Entwicklerkonferenz Google I/O im Moscone Center in San Francisco 5.000 Entwicklern aus aller Welt präsentiert. In den medialen Netzwerken verbreitet sich die Kunde wie ein Lauffeuer. Der gemeinsame Tenor: Die Vision der Augmented Reality wird mit der Google Glass erstmals greifbar. Das Konzept gilt als revolutionär. Nach den Idealvorstellungen von Chefentwickler Barbak Paviz wird Google  Glass das Smartphone quasi ersetzen. Journalist David Pogue schreibt im September 2012 in der New York Times: „Wenn überhaupt irgendetwas so Anderes und Gewagtes wie iPhone oder iPad in Sicht ist, dann sicherlich Google Glass.“

Orwellsche Bedenken.

Am vermeintlichen Höhepunkt gerät die finale Realisierung des Projekts ins Stottern. Der für Ende 2012 vorgesehene Marktstart wird mehrfach verschoben. Experten vermuten technische Probleme. Parviz räumt ein, dass es Sorgen mit der Stabilität der Software gibt. Als im Februar 2013 die ersten Prototypen für Entwickler zum Preis von 1.500 US-Dollar angeboten werden, ist von Google Seite von einem Test die Rede. Vor der Masseneinführung sollen so auch die sozialen Aspekte für Träger und Umwelt beurteilt werden – ein Zugeständnis an die Öffentlichkeit, bei der sich nach der  anfänglichen Euphorie zunehmend Skepsis breit macht. Die Angst wird bei Außenstehenden laut, künftig unbemerkt ausspioniert, fotografiert oder gefilmt zu werden. Datenschützer formieren sich. Der renommierte Digitalisierungskritiker Andrew Keen bringt 2013 die Stimmung unverblümt auf den Punkt: „Weder Orwell noch Hitchcock hätten sich in ihren fürchterlichsten Dystopien Google Glass ausdenken können.“

Flop und Wiederauferstehung.

Ab Mitte April 2014 – eineinhalb Jahre nach Plan -  kann Google Glass in den USA erstmals über das Internet im Rahmen eines Betaprogramms bestellt werden. Doch die öffentliche Ablehnung hat ihren Höhepunkt erreicht. Im Netz kursiert für Early Adopter der Begriff „Glassholes“. In den offiziellen Handel kommt die Brille trotz mehrfacher Ankündigungen nicht. Mitte Januar 2015 wird der Verkauf von Google Glass eingestellt und zugleich verkündet, dass die Datenbrille nicht länger von der Abteilung X entwickelt wird. Ende Januar 2015 bezeichnete Google-Finanzvorstand Patrick Pichette Google Glass als einen Flop.

2017 präsentiert das Unternehmen überraschend Google Glass Version 2.0. Entgegen der Ankündigungen aus 2015 wurde im Labor X weiter am Datenbrillenprojekt gearbeitet (seit Anfang 2016 firmiert das ehemalige geheime Unternehmen Google X unter „X“ und bezeichnet ein Forschungslabor der Alphabet Inc. in der Nähe des zentralen Google Campus im kalifornischen Mountain View). Aus dem geflopten Lifestyle-Gadget der Explorer Edition soll mit der Enterprise Edition nun der Fokus auf die Verwendung im Unternehmensbereich gelegt werden. Die neue Vision von „The Team at X“-Glass-Projektleiter Jay Kothari: „Wir werden die Arbeit revolutionieren und den Menschen helfen, schneller, sicherer und smarter zu sein.“

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.