Zum Holocaust-Tag am 27. Jänner: Der Weg der Wiener Juden in die KZ.
Im Wien des Jahres 1941 mehrten sich die herzzerreißenden Abschiede. Unter Berufung auf die Wiener „Wohnungsnot“ wurde im Februar und März des Jahres mit der Deportation der jüdischen Bewohner begonnen. 61.135 gab es damals noch. Sie wussten nicht, was ihnen bevorstand, nur dass sie „einrücken“, ihren Wohnort verlassen mussten. Diese Aufforderung wurde ihnen mit Postkarten zugestellt. Wer ihr nicht nachkam, musste damit rechnen, dass er in seiner Wohnung und auf der Straße „ausgehoben“ wurde. Wie in einem Planquadrat.
So schrieben sie letzte Briefe an ihre Verwandten und Freunde, hinterließen ihnen oft noch ein Foto mit einer persönlichen Widmung. Arik Brauer erinnert sich heute noch genau, wie sein 13-jähriger Schulfreund aus Ottakring gelaufen kam und ihm seine Karl-May-Bücher als Geschenk brachte. Er durfte seine Lieblingslektüre nicht mitnehmen: „Morgen müssen wir uns melden, wir werden ausgehoben.“ Was hieß das? Sie alle wussten nicht, dass sie „kerzengerade in den Tod“ (Brauer) geschickt wurden.
Die unbekannten Adressen
Die Namen der großen NS-Vernichtungslager kennen heute die meisten Österreicher, folgende Adressen sind ihnen weit weniger bekannt: Kleine Sperlgasse 2a, Castellezgasse 35, Malzgasse 7 und 16, alles Adressen in Wien-Leopoldstadt. Hier begann für die Wiener Juden der Weg in die Vernichtung, hier waren die Sammellager. Verwaltet wurden sie von Alois Brunner und seinen SS-Männern. Reisepässe wurden hier vor den Augen zerrissen, private Wertgegenstände und Bargeld wurden abgenommen. Von hier wurden sie in offenen Lastwagen, vor den Augen der Wiener Bevölkerung, zum Aspangbahnhof gebracht, sie kamen zuerst verstreut in kleine polnische Landstädte und von hier aus in die Vernichtungslager. Nur wenn sie nicht jüdische Verwandte hatten, die sie schützten, konnten sie auf „Zurückstellung“ hoffen.
Lang wurden diese Tage vor der Deportation nicht systematisch aufgearbeitet, die ehemaligen Sammellager inklusive des stillgelegten Aspangbahnhofs vergessen. Für die Überlebenden und Angehörigen waren es jedoch unvergessliche, traumatische Orte. Sie, diese „letzten Orte“, wurden 2016 und 2017 in der Krypta auf dem Wiener Heldenplatz erstmals dokumentiert. Die Ausstellung wollte bewusst machen, dass der Holocaust nicht nur in den Konzentrationslagern stattfand, sondern mitten in der Stadt begann, in der unmittelbaren Nachbarschaft der Wiener Bevölkerung, die entweder offen gaffte und höhnte oder sich hinter den Vorhängen der Wohnungen versteckte. Sie waren die meisten, die Schweigenden, die aber alles mitbekamen. Einige wenige zeigten Mitleid. Ein junges Mädchen, das überlebte, erinnert sich, dass ihr jemand ein Sackerl Obst in die Hand gedrückt hat, mit den Worten: „Du armes Kind!“
Die Ausstellung ist noch immer zu sehen, im Bezirksamt Leopoldstadt (Karmelitergassee 9). Nachzulesen sind die Schicksale der deportierten Wiener Juden nun in einem Buch des Mandelbaum-Verlags. Es enthält neben den fundierten Darstellungen einer Reihe von Historikern Fotografien, Postkarten, Briefe, Gedichte, auch Notizen und Dokumente der Täter und viele berührende Interviews mit Überlebenden der Wiener Sammellager. Die Dokumentation der Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien gehört in jede Bibliothek.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2020)