Streeruwitz: Der größte Feind der Frau

Selma ist nicht "Sex-and-the-City"-fähig: Sie ist ohne Freundinnen und ohne jegliche Neigung zu "Positive thinking". Marlene Streeruwitz' Roman "Entfernung.": große Literatur.

Dr. Selma Brechthold ist in einer misslichen Lage. Altersmäßig ge rade an der Schwelle zu jener flot ten Generation 50+, der neuerdings grenzenlose Souveränität und Serenität angedichtet beziehungsweise abgefordert wird, hat sie gleich mehrere Eckpfeiler ihrer Existenz verloren: den Lebensgefährten - und damit auch die Wohnung - sowie den Job als Chefdramaturgin der "Wiener Festspiele". Was die Sache noch demütigender macht: In beiden Fällen wurde sie gegen eine jüngere Frau ausgetauscht. Postfeministisches Fazit: Der größte Feind der Frau ist eine andere Frau. Aber halt, da gibt es doch noch gute Frauen, und das sind die, die sich unter ihren Verwundungen ganz geschlagen gegeben haben, Sarah Kane zum Beispiel. Mit einem "Sarah-Kane-Projekt" in der Tasche bricht Selma auf, um nach London zu fliegen und ihr erstes Verkaufsgespräch freelance zu wagen.

Man ahnt schon, dass es in London leicht sein wird, ihren Namen mit "Thelma" zu verwechseln (was dann auch geschieht), ein Name, der seit dem legendären Frauen-Road-Movie "Thelma und Louise" als Chiffre für weibliche Aufbruchsversuche steht. Was Selma fehlt, ist allerdings die Louise, und auch, wenn sie auf Prada-Schuhen durch die Großstädte irrt, mangelt es ihr, um "Sex-and-the-City"-fähig zu werden, an liebevollen Freundinnen.

Um Selmas Geschichte zu erzählen, hat Streeruwitz eine Technik des Naturalismus ausgegraben: den Sekundenstil. Auf 475 Seiten bewegt sich Selma knappe 24 Stunden weiter, eine Pause gönnt sie uns nur, wenn sie schläft. Jedes auch noch so banale Detail, das in die Nähe von Selmas Sinnesorganen gerät, wird geschildert. Wie der Rucksack getragen wird. Welches Gefühl Selma im Mund, im Bauch, an den Fußsohlen hat. Die jeweilige Umgebung wird fotografisch abgelichtet: Fassaden, Autos, Blumenerde, Holz, Stoff, Lack, Wasserflaschen, Gärten, Dächer, Personen, ihre Bekleidung, ihr Gepäck. Furchtlos schleppt uns Streeruwitz auch noch auf die Toilette mit und erzählt uns alles, was wir über Selmas Ausscheidungsvorgänge nie wissen wollten. Und obwohl das jetzt alles sehr mühsam und nervig klingt, haben wir es hier nicht nur mit einem sehr spannenden Buch zu tun, sondern mit einem großen literarischen Werk.

Ja, Selma nervt, und zwar mindestens so wie der Ich-Erzähler in Thomas Bernhards "Holzfällen", der uns mit seiner Stream-of-consciousness-Suada überschüttet, und wie von jenem wird man von ihr abgestoßen und angezogen zugleich. Selma tut uns nicht den Gefallen, aus einer erlittenen Schmach witzig und pfeffrig zu neuen Ufern davonzusprinten: sie ist zynisch, grantig, verbittert, pingelig und ihre Neigung zu positivem Denken gleich null. Sie räsoniert, schwadroniert, kramt ewig in ihrer Handtasche herum, analysiert schon einmal in blendend scharfsinnigen Sätzen den zeitgenössischen Kulturbetrieb und gleich danach den Zustand ihres alternden Pos.

Obwohl sie in die weite Welt hinauszieht, bleibt Selma in der klaustrophobisch engen Kammer konsequenter Subjektivität. Über politisch korrekte Rücksichten ist sie hinweg: Ihre Nebenbuhlerin bezeichnet sie als "ungarische Hure", ein businesslike gekleideter Schwarzer in der Londoner U-Bahn veranlasst sie zu allerlei aggressiven Ge-danken zum Thema "Assimilation" (er steht antithetisch zu dem "Wilden", der uns am Ende begegnet), und die Tatsache, dass der Theatermann Gilchrist, der sie gnadenlos abblitzen lässt, schwul ist, macht ihn ihr nicht einen Deut sympathischer.

Streeruwitz' markant zerhackter Stil zerrt dabei in Richtung Auflösung, was durch die akribische Sammlung von Oberflächen gehalten und gefasst werden soll: das Bewusstsein eines grenzenlos einsamen Menschen in einer von anderen Menschen wimmelnden urbanisierten Welt. Die Entfernung wächst mit jedem Zoom. Je weiträumiger die Verbindungen, desto isolierter schleudert es das "freie" Individuum darin herum - bis es sich zuletzt nur mehr an den Dingen in unmittelbarer Körpernähe festhalten kann: in Selmas Fall den persönlichen Gegenständen, die sie in ihrer Handtasche mit sich trägt und am Schluss, dem Gipfel der Desorientierung, in einer Art atavistisch-magischem Kreis um sich legt.

Die immense Spannung des Buches wird durch diese beiden Gegenströmungen erzeugt: die Entschleunigung, mit der auch noch dem geringsten Moment Aufmerksamkeit gewidmet wird, und die gehetzte Sprache, die von Auslassungen, Umstellungen und Wiederholungen lebt. Selbst, wenn Selma regungslos dasteht, kann die Sprache kaum mithalten: "Nicht in sich zusammen. Nicht sich fallen lassen. Sich nicht in sich zusammenfallen zu lassen. Sie stand. Stemmte sich gegen den Wunsch. Sie stand."

Streeruwitz siegt, indem sie mit höchstem Risiko spielt. Selbst Dinge, die man einem geringeren Schriftsteller kaum verzeihen würde, weiß sie zu transformieren. Unregelmäßig eingestreute syntaktische Klumpen, bei denen das Verb an das Satzende gestellt wird ("Aber in Italien alle gemacht hatten.") und die einem zunächst als billige Manierismen aufstoßen, werden nach und nach glaubwürdige Fäden der Desintegration.

Einer exilierten Gruppe von Kunststudenten, die sich nächtens zum Aktzeichnen treffen, steht sie unfreiwillig freiwillig Modell. "Weil alle immer alles freiwillig machten, waren die Skandale in Freiheit zerstäubt." In Ekstase gerät sie auf dem Konzert einer Frauenrockband namens "The Singing Tampons", deren Liedtexte durch pubertäre Stilblüten wie "Fuck your father. Rape your mother." aufpeitschen. Auf endlosen Seiten schleppt sich Selma durch den darauf folgenden Morgen, bis sie in die Bombenattentate auf die Londoner U-Bahn vom 7. Juli 2005 gerät. Doch für Selma ändert sich scheinbar nichts - mit leichten Verletzungen kommt sie wieder an die Stadtoberfläche, um sich weiterzuhanteln, genauso wie zuvor.

Nur zart zeichnet sich ab, dass sie die Nase voll davon hat, die weibliche Speerspitze der Zivilisation in einer Welt darzustellen, in der das Faustrecht herrscht. Doch dann muss sie wieder jemanden retten: einen halbnackten, bemalten Schwarzen. Über einen Stein, den er ihr hinhält, gießt sie Wasser und die sichtbar gewordenen Einlagerungen bilden einen glitzernden Stern. Ein Schluss, der nach Esoterik-Kitsch klingt - wäre da nicht die groteske Komik, die Sinnlosigkeit auch des "Magischen", zu der ihn Meisterin Streeruwitz sublimiert.

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