Sucht ohne Drogen: Angebot steigt

Verhaltenssüchte. Glücksspiel-Verbreitung und Technisierung des Alltags bereiten Ärzten Kopfzerbrechen: Die Zahl der Spiel- und Internet-Süchtigen ist binnen weniger Jahre explodiert.

Der Begriff der Sucht beschränkte sich lange Zeit auf den krankhaften Konsum von Substanzen wie Alkohol, Nikotin, Heroin und Kokain. Mit der Entwicklung der Konsumgesellschaft eröffneten sich gefährdeten Personen jedoch auch Verhaltensweisen, die über ein hohes Suchtpotenzial verfügen. Die Wissenschaft spricht von stoffungebdundenen Süchten und meint damit Spielsucht, Internetsucht, Kaufsucht oder Sexsucht. Die Zahl der Betroffenen ist in den vergangenen Jahren in Teilbereichen regelrecht explodiert. Einige Daten:
Vor fünf Jahren noch galten 30.000 Österreicher als Internet-süchtig. Heute sind es 60.000.
80.000 bis 160.000 Personen sind spielsüchtig,
Auch krankhaftes und ruinöses Konsumverhalten ist im Vormarsch. Der Anteil der gefährdeten Personen in der Bevölkerung wird auf 25 Prozent geschätzt.
Über die Verbreitung von Sexsucht gibt es keine Zahlen.

„Wie bei stoffgebundenen Süchten spielt auch bei stoffungebunden Süchten die Verfügbarkeit eine ganz entscheidende Rolle“, erklärt Herwig Scholz, Leiter des Sonderkrankenhauses de La Tour in der Nähe von Villach, das sich auf die Therapie von Alkoholikern und pathologischen Spielern spezialisiert hat. „Die Legalisierung des Automatenspiels in den Bundesländern Wien, Niederösterreich, Steiermark und Kärnten hatte katastrophale Auswirkungen.“

Zwar existieren bis heute keine repräsentativen Erhebungen dazu, die Vervielfachung der Anfragen auf Therapieplätze – insbesondere aus den betroffenen Bundesländern – spreche aber eine eindeutige Sprache. Und: „Es ist inzwischen belegt, dass die Verfügbarkeit des Automatenspiels vor allem Jugendlichen einen leichten Einstieg in die Sucht ebnet“, sagt Scholz.

Glückshormon als Auslöser

Warum Glücksspieler ihr offenkundig selbstzerstörerisches Handeln nicht einfach abstellen können, erklärt sich medizinisch so: Ähnlich wie beim Konsum von Drogen wird in einem bestimmten Teil des menschlichen Gehirns auch beim Gewinnen am Spieltisch das Glückshormon Dopamin ausgeschüttet. Bei Menschen mit zumeist niedrigem Selbstwertgefühl macht sich dieser Teilbereich nach einer gewissen Zeit selbstständig, verlangt nach mehr und manipuliert so das Denken. Scholz: „Genau genommen ist es derselbe Hirnbereich, der uns bei einem Kinobesuch automatisch an Popcorn denken lässt.“

Wie ähnlich sich stoffgebundene und stoffungebundene Süchte sind, zeigt die Internet-Sucht. Wie bei einer Drogensucht müssen Betroffene mit der Zeit die „Dosis“ erhöhen, planen ihren gesamten Tagesablauf danach und zeigen sogar psychische Entzugserscheinungen wie Unruhezustände und quälende Fantasien. Wobei: „Das Internet selbst macht noch nicht süchtig“, weiß der Wiener Psychiater Hubert Poppe, der sich auf die Therapie von Internetsucht spezialisiert hat. Vielmehr sind es Services wie Chat-Räume, Online-Computerspiele, Online-Glücksspiel und auch Erotik-Seiten, die ein Suchtverhalten auslösen können.

Jugend besonders gefährdet

Die Liste der physischen und psychischen Folgeschäden ist lang. Internet-Süchtige „vergessen“ vor dem Bildschirm Hunger und Durst, vernachlässigen soziale Kontakte und Pflichten. „Tragisch ist das vor allem bei Jugendlichen, die besonders gefährdet sind“, meint Poppe. Anstatt sich um ihre Ausbildung zu kümmern, flüchten diese täglich sechs Stunden und länger in futuristischen Online-Welten.

Ganz oben auf Poppes Sorgenliste steht das Online-Rollenspiel „World of Warcraft“ (WoW), das 90 Prozent seiner Patientenanfragen betrifft. „WoW ist deshalb für viele so fesselnd, weil lange Online-Zeiten besondere Belohnungen im Spiel nach sich ziehen“, weiß Poppe. Besorgten Eltern rät der Psychiater vor allem zu mehr aktiver Anteilnahme an Freizeitaktivitäten ihrer Kinder. Verbote seien meist nicht zielführend.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.02.2007)


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