Türkei: Erste Runde der Präsidentenwahl annuliert

Das türkische Verfassungsgericht erklärt die erste Runde der Präsidentschafts-Wahlen für ungültig. Vorgezogene Parlaments-Wahlen sind möglich.

ISTANBUL. Nach den scharfen Warnungen des Militärs vom Wochenende und der Massendemonstration in Istanbul hält die Erregung über die zwischen der gemäßigt islamischen Regierung und den sekulären Kemalisten umstrittene Präsidentenwahl in der Türkei an. Und sie steigerte sich Dienstag noch: Das Verfassungsgericht hob auf Antrag der Opposition den ersten Wahlgang im Parlament vom Freitag auf, bei welcher der Kandidat der Regierungspartei AKP, Außenminister Abdullah Gül, siegte.

Die Entscheidung war deshalb eher überraschend, da das Argument der Opposition, bei der Wahl seien zu wenige Abgeordnete anwesend gewesen, und daher habe Gül im Endeffekt nicht die nötige Zweidrittelmehrheit des gesamten Parlaments erreicht, auf schwachen Beinen zu stehen schien.

Auch hatten Justizkreise durchblicken lassen, dass eine Ablehnung des Antrags wahrscheinlich sei.
Zuvor hatte der Oppositionsführer Deniz Baykal indes kräftig nachgelegt: Baykal sagte Montag vor Journalisten, wenn das Gericht den ersten Wahlgang nicht aufheben würde, würde das Land in einen "gefährlichen Kampf" getrieben. Wie immer es gemeint war - es klang wie die Drohung mit Bürgerkrieg. Premier Erdogans Berater Güneyt Zapsu meinte gegenüber der Basler Zeitung über die Äußerung: "Wenn wir das gesagt hätten, wäre ein Verfahren gegen uns eröffnet worden."

Richter neigen Kemalisten zu

Zapsu hat schon Recht: In Ankara wird nicht mit gleichem Maß gemessen, die Justiz steht wie immer mehr auf Seite der Kemalisten. Mit einem dem Islam zuneigenden Präsidenten Abdullah Gül könnten die Hochburgen des Kemalismus langsam geschleift werden, denn der Präsident setzt die Höchstrichter ein und bestimmt die Rektoren der Unis.
Andererseits haben die Massendemonstration in Ankara mit bis zu 500.000 Teilnehmern am 14.#April und die noch größeren Kundgebungen in Istanbul vom Sonntag und Dienstag vor Augen geführt, dass Gül als Präsident von einem Gros der Gesellschaft abgelehnt wird. Die Regierung täte gut daran, das nicht zu ignorieren.

Es ist aber nicht sicher, dass der Knoten durch das Urteil gelöst wird. Die Regierung hat nämlich nun mehrere Möglichkeiten, den Wahlvorgang dennoch fortzusetzen - doch wahrscheinlicher ist, dass sie ihr Beharren auf Gül aufgibt und es der Hohen Wahlkommission überlässt, vorgezogene Parlamentswahlen anzusetzen. Die könnten Ende Juni stattfinden.

Neue Mehrheit für Islamisten?

Ob das aber die Krise lösen würde, ist doch ziemlich unsicher. Wenn nämlich wieder einige Oppositionsparteien an der Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament scheitern sollten, bekommt die Regierung von Erdogan erneut eine komfortable Mehrheit im Parlament, ohne eine Mehrheit im Lande zu haben - und der Streit um das Präsidentenamt kann fortgesetzt werden.

Wilde Proteste am 1. Mai

Als ob es nicht genug Unruhe gäbe, erlebte Istanbul am Dienstag auch einen wilden Ersten Mai: Gouverneur Muammer Güler wollte verhindern, dass die "Revolutionäre Gewerkschaftskonföderation" eine Demo am zentralen Taksim-Platz macht. Schulen wurden geschlossen, Fährverbindungen unterbrochen, 17.000 Polizisten aufgeboten. Die Polizei griff Demonstrantengruppen mit Wasserwerfern, Tränengas und Knüppeln an. Bis Mittag wurden mindestens 580 Menschen verhaftet; Gewerkschafter sprachen von 900 Festnahmen und vielen Verletzten.

Die Demonstranten wollten dabei auf dem Taksim-Platz auch einer 1.-Mai-Kundgebung an diesem Ort vor 30 Jahren gedenken, bei der 36 Menschen von der Polizei erschossen wurden.

Hintergrund

Das Verfassungsgericht wurde von der Opposition angerufen, weil bei Runde eins der Wahl zum türkischen Präsidenten am Freitag im Parlament angeblich zu wenige Abgeordnete anwesend waren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2007)

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