Der Methusalem der Macht sagt adieu

40 Jahre lang prägte Jacques Chirac die französische Politik, zwölf Jahre war er Präsident. Er wird vor allem durch zahlreiche innenpolitische Pannen und lange Perioden der Passivität in Erinnerung bleiben.

Für einmal waren alle von links bis rechts mit Jacques Chirac einer Meinung und applaudierten mit heimlicher oder demonstrativer Erleichterung. Das war am 11. März 2007. Der bisherige Staatspräsident hatte gerade im Fernsehen erklärt, er wolle kein drittes Mandat anstreben. Der Wunsch der Franzosen nach einer Verlängerung nach zwölf Amtsjahren war praktisch inexistent.

Nun, angesichts von Chiracs Abgang – er hielt Dienstagabend seine Abschiedsrede und übergibt heute das Amt an Nicolas Sarkozy – kratzen sich die Journalisten in Frankreich am Kopf: Was sollen sie über diese zu Ende gehende Ära hervorheben? Dass dieser Politiker, der unbedingt Präsident werden wollte, es bei seinem dritten Anlauf 1995 schließlich geschafft hat und fünf Jahre später nur wiedergewählt wurde, weil sein Gegner der Rechtsextremist Le Pen war? Dass er anschließend wie ein Don Juan der Politik mit der eroberten Macht nichts anzufangen wusste? Dass er nur darum nicht wegen diversen Finanzaffären aus der Zeit als Pariser Bürgermeister und Parteichef vor Gericht kam, weil er sich auf seine Immunität als Staatschef berufen konnte?

„Ohne tieferen Sinn“

Von einer „durchzogenen Bilanz“ mit zahlreichen innenpolitischen Pannen, Patzern und langen Perioden der Passivität sowie einigen internationalen Glanzlichtern ist in den meisten Kommentaren zum Amtsende die Rede. Chirac beende „eine politische Karriere ohne tieferen Sinn“, erklärt der Politologe Jean-Claude Casanova in der Zeitung „Le Monde“. In den Umfragen kommt der abtretende Präsident nicht gut weg. Mehr als die Hälfte (insgesamt 54%) halten seine Bilanz für schlecht, 42% halten sie für eher positiv und nur 2% für sehr gut.

Nein zum Irak-Krieg

Auch wenn man es im Ausland anders sehen mag: Frankreichs Medien rechnen Chiracs Außenpolitik zu den Pluspunkten dessen Präsidentschaft. Dabei fing seine Amtszeit mit einer internationalen Protestwelle gegen die Wiederaufnahme von Atomwaffentests an. Und sein Vorhaben, Frankreich wieder voll in die Nato zu integrieren, blieb Theorie.

Ganz in der Tradition seines Vorbilds General de Gaulle verstand es Chirac, in entscheidenden Momenten Nein zu sagen und sich gegen die USA querzulegen. So erklärte er nicht nur den Krieg gegen Saddam Hussein zu einem Irrtum, sondern drohte mit einem Veto im UN-Sicherheitsrat.

Auch in der Nahostpolitik spielte der französische Präsident eine eigene Partitur, auf das Risiko hin, je nachdem die Amerikaner und die Israelis oder auch die Syrer zu verärgern. Die arabische Welt wird es ihm nicht vergessen, dass er dem todkranken Jassir Arafat in einem Spital bei Paris Gastfreundschaft gewährte.

Afrikas Freund

Vor allem in seiner zweiten Amtszeit versuchte Chirac die Regierungs- und Wirtschaftsverantwortlichen für Maßnahmen gegen die Umweltzerstörung und den Klimawandel sowie für die Entwicklung der ärmsten Länder zu gewinnen. „Unser Haus brennt, und wir schauen weg“, sagte er 2002 am Erdgipfel von Johannesburg. Seine Vorschläge, beispielsweise eine kleine Abgabe auf Flugtickets zur Finanzierung von Medikamenten für Entwicklungsländer, fanden nur zögernde Unterstützung. Chirac erschien in diesem Bereich auch offener für andere Kulturen und weniger auf die unmittelbaren Interessen der Nordhemisphäre zentriert als die meisten seiner Partner. Trotz des Scheiterns der Schlichtung und der Intervention in der Elfenbeinküste und trotz des einseitigen Eingreifens zu Gunsten der Verbündeten von Paris (Tschad, Kongo) gilt Chirac in den meisten Ländern West- und Zentralafrikas als ein besorgter Freund.

Reformen im Eimer

Jacques Chirac steht wie Nicolas Sarkozy politisch rechts. Doch im Unterschied zu seinem Nachfolger hat er ein schlechtes Gewissen deswegen. In der Innenpolitik war er das Opfer seiner eigenen Ambivalenz. Wann immer sich massiver Widerstand gegen Reformvorlagen seiner Regierungen regte, blies Chirac am Schluss zum Rückzug. Die Taktik kam immer vor der Grundhaltung.

So war er abwechslungsweise oder gleichzeitig ein fortschrittlicher oder reaktionärer Gaullist, ein colbertistischer Staatsinterventionist alter Schule, ein Liberaler und Konservativer. Zwischendurch gebärdete er sich selbst als Linkspopulist wie 1995: Um sich gegen seinen Parteikollegen Edouard Balladur bei den Präsidentschaftswahlen durchzusetzen, versprach Chirac das Blaue vom Himmel, um die wachsende soziale Ungleichheit, zu bekämpfen.

Dass er stattdessen gleich nach seiner Wahl eine harte Austeritätspolitik verordnete, haben ihm viele Franzosen nie verziehen. Die Rentenreform seines Premiers Alain Juppé scheiterte im Streikherbst 1995 am Widerstand, ebenso später fast alle zaghaften Reformversuche still oder mit Klamauk wie zuletzt im Frühling 2006 der Erstanstellungsvertrag (CPE) seines letzten Regierungschefs Dominique de Villepin. Weniger spektakulär, aber für den Alltag von großer Bedeutung, sind hingegen Chiracs Initiativen für die Sicherheit im Straßenverkehr (die Zahl der Unfalltoten sank von 8000 auf 5000 pro Jahr), für die Behinderten und die Betagten.

Debakel: Nein zu EU-Verfassung

Zwei politische Niederlagen in seiner langen Laufbahn bleiben ein Rätsel. Angesichts der Unpopularität der Regierung Juppé beschloss er 1997, die Nationalversammlung aufzulösen. Doch statt ihm bei den vorgezogenen Wahlen mit einer neuen Mehrheit das Vertrauen auszusprechen, hievten die Bürger die linke Opposition mit Lionel Jospin an der Spitze an die Macht. Fünf Jahre musste Chirac mit dem sozialistischen Regierungschef kohabitieren und so für sein Fehlkalkül büßen. Dem unumgänglichen Kompromiss an der Staatsspitze zuliebe wurden alle zu strittigen Vorlagen aufs Eis gelegt.

Ahnungslos steuerte Chirac sich und Frankreich auch ins zweite große Debakel: Nichts zwang ihn, den EU-Verfassungsvertrag, dessen Ratifizierung durch das Parlament eine reine Formsache gewesen wäre, im Mai 2005 dem Volk vorzulegen. Das deutliche Nein war ein Misstrauensvotum gegen Chirac, seine Regierung und in zweiter Linie auch gegen die EU.

Aus beiden Niederlagen hätte Chirac die Konsequenzen ziehen und zurücktreten müssen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.05.2007)

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