Die Mär vom Horrorfach Mathematik

Wobei das Wort „Mär“ einer Hoffnung Ausdruck gibt.

Es hat keinen Sinn, die Augen zu verschließen. Immer noch – vielleicht weniger als früher, wir wollen es hoffen – empfinden Schülerinnen und Schüler Mathematik keinesfalls als inspirierend, als anregend, vielmehr als öde, als nutzlos, wenn nicht sogar als abstoßend, als widerliches Hindernis vor dem erfolgreichen Abschluss.

In einem Gespräch, das ich dieser Tage mit dem in Bildungs- und Ausbildungsfragen höchst versierten und besonders engagierten Generaldirektor von Böhler-Uddeholm, Claus Raidl, führen konnte, waren wir uns darin einig, dass der schlechte Ruf, der der Mathematik angeheftet wird, wohl entscheidend dazu beiträgt, dass sich viel zu wenige junge Damen und Herren für ein Studium der Naturwissenschaften oder der Technik entschließen. Denn am Beginn derartiger Studien steht ein mathematischer Einführungskurs unverrückbar wie ein Fels in der Brandung, der erklommen werden muss.

Kein zwingender Grund ist ersichtlich, dass dieser beklagenswerte Zustand so bestehen muss, wie man ihn vielleicht noch vorfindet. Es gibt im Gegenteil ein ermutigendes Beispiel eines Schulfaches, das noch vor 50 Jahren weitaus mehr gefürchtet war, das aber durch die Einsicht der Unterrichtenden und seiner Lehrplangestalter allen Schrecken verlor und sogar erstaunlich an Attraktivität gewann: Latein. Man begriff nämlich, dass es nichts bringt, Latein mit einer Intensität zu unterrichten, dass die schweißgebadeten Lernenden in der Lage sind, einem ihnen begegnenden Römer fehlerlos Rede und Antwort zu stehen. Nie tauchte ein solcher Römer auf. Hingegen die sprachlichen Spitzfindigkeiten hintanzustellen und den Wert des Kulturfaches Latein in den Vordergrund zu rücken hat diesem Schulgegenstand ein neues, sympathisches Gesicht verliehen.

Nichts spricht dagegen, dass ein ähnlicher Wandel auch bei Mathematik möglich ist. Natürlich, einige grundlegende Rechenkompetenzen werden immer die Basis bilden. Doch genau bei diesen, den Grundrechnungsarten, der elementaren Geometrie und Statistik, der Prozentrechnung stellt sich die Frage nach dem Nutzen nicht: Er ist offensichtlich, und die Übung dieser Fertigkeiten überfordert kaum jemanden. Es sollte aber gelingen, über diese Pisa-artigen Rechenbeispiele hinauszuwachsen und auch Mathematik als ein Kulturfach nahezubringen: als eine Geschichte über das Abenteuer des exakten Denkens, mit Erklärungen, aus welchen Motiven, in welchem Umfeld dieses Denken vollzogen wurde und wird und welche tiefgreifenden Auswirkungen es hatte und hat.

Das Begreifen von Zusammenhängen ist dem Nachvollziehen aller Einzelheiten vorzuziehen. Wie sollten auch Probleme, die ein Genie wie Newton wälzte und deren Lösung trotz seiner Bemühungen Jahrhunderte auf sich warten ließ, in ein paar Unterrichtsstunden detailversessen abgehandelt werden? Darauf kommt es gar nicht an. Als ich mich einmal bemühte, einen tiefen mathematischen Gedanken vor Laien, so gut ich konnte, zu erörtern, erhielt ich den lobenden Zuspruch: „Vorher habe ist es nicht verstanden. Auch jetzt verstehe ich es noch nicht – aber das auf einem viel höheren Niveau!“ Es wäre vermessen, wollte man als Lehrer mehr erwarten.

Rudolf Taschner ist Mathematiker und Betreiber des math.space im Wiener Museumsquartier.


meinung@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2007)

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