„Europa muss sich neu erfinden“

INTERVIEW. Margot Wallström, die Vizepräsidentin der EU-Kommission, hält die Schaffung einer echten europäischen Öffentlichkeit für die größte Herausforderung der Union.

Die Presse: Die Europäische Union ist 50 Jahre alt. Sehen Sie eine Art Midlife Crisis?

Margot Wallström: Hinter der Idee zur Gründung der EU stand der Schrecken über den Vernichtungskrieg und den Massenmord, den Europa über sich selbst und die Welt gebracht hatte. Diese Erinnerung war der Motor für die produktive erste Phase. 50 Jahre später sehen wir die Ergebnisse dieser dynamischen Entwicklung: das Recht, in jedem beliebigen Mitgliedsland zu arbeiten, zu studieren und in Pension zu gehen; freier Verkehr von Kapital, Waren und fast allen Dienstleistungen – der größte Binnenmarkt der Welt. Die jüngeren Generationen haben diese Vorteile jedoch so verinnerlicht, dass sie sie für selbstverständlich halten. Deshalb muss sich Europa neu erfinden: Indem es besser erklärt, warum es nach wie vor Bedeutung hat und indem es die Erwartungen der Bürger und Bürgerinnen an die Zukunft stärker berücksichtigt.

Mit 27 Staaten hat die EU an Einfluss gewonnen, ist aber nicht mehr so flexibel. Wie viele Mitglieder könnte die Union verkraften?

Wallström: Es geht um die Verbesserung der Funktionsfähigkeit der derzeitigen EU und nicht sosehr um die eher abstrakte Frage nach der Aufnahmekapazität. Die EU darf sich bei innenpolitischem Versagen nicht auf die Erweiterung ausreden. Und genau in diesem Kontext hat Kommissionspräsident Barroso vor kurzem klargestellt, dass eine Neuregelung der Institutionen stattgefunden haben sollte, bevor die Union ein weiteres Mitglied aufnimmt.

Die EU reduziert gerade den bürokratischen Aufwand. Wo wird sie in Zukunft eine starke Verwaltung brauchen und wo wird das nicht mehr nötig sein?

Wallström: Die EU wird natürlich auch weiterhin Rechtsvorschriften für Bereiche erlassen, in denen das notwendig ist, etwa damit im Binnenmarkt die Wettbewerbsbedingungen für alle gleich sind oder um hohe Umweltstandards zu sichern. Gleichzeitig sollten wir uns aber in einer EU-27 dort zurückhalten, wo EU-weite strikte Regeln sich nachteilig auswirken.

Wo sehen Sie die EU in 50 Jahren? Wird es sie noch geben?

Wallström: Die EU braucht einfachere und demokratischere Entscheidungsprozesse – also einen neuen Vertrag: einfacher, kürzer, lesbarer und mit innovativen Elementen; eher einen „Vertrag Plus“ als einen Mini-Vertrag. An innovativen Elementen sollten Klimawandel, Energie und Versorgungssicherheit sowie nachhaltige Entwicklung (die Überprüfung jeder neuen Rechtsvorschrift auf Nachhaltigkeit, Anm.) hinzukommen; weiters Transparenz und Verantwortlichkeit. Die zentrale Frage aber lautet: Wie können wir die Entstehung einer echten europäischen Öffentlichkeit fördern, mehr Bewusstsein bei den Bürgern und Bürgerinnen schaffen und sie stärker in EU-Entscheidungen einbinden? Europa ist nicht so weit weg, wie viele Menschen leider denken. Wenn wir in diesen drei Punkten erfolgreich sind – die Institutionen neu ordnen, innovative und ansprechende Politik machen, den Bürgern und Bürgerinnen zuhören – bin ich sicher, dass die EU auch in 50 Jahren noch eine Erfolgsgeschichte sein wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2007)

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