Volk ohne Trauer?

Wie kein Zweiter war Alexander Mitscherlich bis in die 1980er-Jahre hinein Orientierungsfigur in den öffentlichen Debatten. Martin Dehli untersucht in einer profunden Biografie dieses „Leben als Konflikt“ auf seine Widersprüche.

Biografien von Wissenschaftlern hatten keinen guten Leumund. Sie wurden großteils als Produkte eines boomenden populären Geschichtsmarktes wahrgenommen, der das Verständnis von historischen und sozialen Zusammenhängen auf den mehr oder weniger zufälligen Lebensweg eines Individuums reduziert. Erst als lebensgeschichtliche Modelle in komplexere Erklärungen wissenschaftlicher Entwicklungen gestellt wurden, kam es zu einer Rehabilitierung. Traditionelle Biografen rechtfertigen ihr Unternehmen zweifach, entweder als Rettung des Gegenstandes oder als Abrechnung mit ihm.

Martin Dehli hat nun eine Biografie Alexander Mitscherlichs vorgelegt, die einen Ausweg aus diesen Polarisierungen versucht. Der Titel „Leben als Konflikt“ lässt sich doppelt lesen: Das Buch tritt an mit dem Anspruch, die autobiografischen Arbeiten Mitscherlichs als strategische Texte zu lesen, die der historischen Überprüfung oft nicht standhalten und ihn als Figur der Widersprüche und Selbstkorrekturen zeichnen. Gleichzeitig weiß der Autor, dass seine Darstellung zu Konflikten Anlass geben wird.

Wie kein Zweiter Psychoanalytiker ist Mitscherlich zu einer Orientierungsfigur in den öffentlichen Debatten bis in die Achtzigerjahre geworden. Die Befunde, die der Mediziner, Psychoanalytiker und Sozialpsychologe der deutschen Gesellschaft ausstellte, erreichten Leser weit über die engen Fachkreise hinaus. Ein Buch wie „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ verwandelte sich bald zum Brevier jüngerer Stadtplaner. „Die Unfähigkeit zu trauern“, die er zusammen mit seiner letzten Frau Margarete Mitscherlich-Nielsen 1967 vorlegte, verlieh den Leiden an der Gegenwart der Nachkriegsgesellschaft eine einprägsame Formel. 25 Auflagen erlebte das Buch, das sich zuletzt zu einem Gemeinplatz für Sonntagsreden abnutzte.

Einige seiner zentralen Thesen wurden ihm allerdings erst durch seine Leser in den Mund gelegt. Als Grundgedanke der „Unfähigkeit zu trauern“ gilt heute die Weigerung der Nachkriegsgesellschaft, den Opfern gegenüber Schuld einzugestehen. Doch war diese Diagnose nur eine untergeordnete Linie in Mitscherlichs Deutung der Misere und ihre Überstrapazierung selbst schon Ergebnis einer spezifischen Lesart. Wesentlich verstörender und unverträglicher mit der moralischen Position, die ihm später eingeräumt wurde, war, dass sich die „Unfähigkeit zu trauern“ auf die Opfer bezog. Sie galt vor allem den untergegangenen Idealen, die der Nationalsozialismus vermittelte und die nur durch eine Trauerhaltung von den ehemaligen Akteuren endgültig zu „begraben“ seien. Der unanstößigen Vereindeutigung, die spätere Leser vorgenommen haben, entspricht eine Eindeutigkeit, die Mitscherlich seiner Biografie gegeben hat.

Dehli lenkt die Aufmerksamkeit auf die frühe intellektuelle und politische Sozialisierung Mitscherlichs, die dieser in seiner 1980 erschienenen Autobiografie unter dem Titel „Ein Leben für die Psychoanalyse“ rückblickend begradigte. Akribisch rekonstruiert der Biograf den politischen Kontext, der den Hintergrund für Mitscherlichs Opposition zum Nationalsozialismus abgab. Die Distanz zur Nazi-Ideologie fällt dabei weniger heroisch aus, als Mitscherlich sie später schilderte. Die nebelig gehaltenen Stellen seines Selbstbildes versucht Dehli nicht aus der Perspektive von Wahrhaftigkeit oder Täuschung mit dem Korrekturstift in der Hand zu berichtigen. Vielmehr liegt die Stärke seines Buches darin, die autobiografischen Umschriften als Bedürfnis nach Selbstvergewisserung darzustellen, die angesichts der historischen Gewalt nach einer Eindeutigkeit verlangte, auf der sich eine Gesellschaft nach dem Krieg neu errichtete.

Bekannt ist mittlerweile Mitscherlichs Engagement im Kreis um Ernst Jünger und die national-konservativen Gegner der Weimarer Republik. Dehli verkürzt auch Mitscherlichs Gestapo-Inhaftierung von behaupteten acht auf drei Monate und weist nach, dass er sein Geschichtsstudium nicht wegen des heraufdämmernden Nationalsozialismus 1932, sondern 1930, als sein jüdischer Doktorvater starb, abbrach und zur Medi- zin wechselte. Die psychosomatische Medizin spielte eine zentrale Rolle in seinem Selbstverständnis als Mediziner und Kulturkritiker. Seine Dokumentation des Ärzteprozesses in Nürnberg, die er als Beobachter der Ärztekammer unter dem Titel „Das Diktat der Menschenverachtung“ publizierte, brachte ihn in Konflikt mit weiten Teilen seiner auf einen von Schuld unbefleckten Ärztekittel bedachten Kollegenschaft, weist jedoch ihrerseits einen blinden Fleck auf.

Während seine anderen Bücher aus den Literaturlisten verschwanden, ist dieser Titel bis heute ein zentraler Referenzpunkt der medizinischen Ethik-Debatten geblieben, die sich mit Genetik und Sterbehilfe befassen. Das Buch stellt nur einen einzigen „Persilschein“ aus, nämlich für die psychosomatische Medizin, deren bekanntester Vertreter Viktor von Weizsäcker war. Dehli kann auf neuere Arbeiten zu Weizsäcker zurückgreifen, die die Nähe von NS-Eugenik und der in Vergessenheit geratenen „Vernichtungslehre“ Weizsäckers herausgestellt haben. Darin verliert die Psychosomatik ihre Unschuld, da sie nicht bloß Forderungen nach therapeutischen Maßnahmen, sondern zunächst auch solche nach Regeln der Vernichtung menschlichen Lebens aufgestellt hatte. Bis in die Gegenwart führt der generelle Freispruch der Psychosomatik in Nürnberg dazu, dass behauptet wird, unter den Nationalsozialisten hätte es keine psychosomatischen Modelle gegeben.

Für einen einzelnen Protagonisten erschließt die Biografie „Leben als Konflikt“ die gesellschaftspolitischen Dimensionen medizinischer und psychologischer Richtungen. Mitscherlich machte mit dem Band „Unfähigkeit zu trauern“ einer ganzen Generation ein Identifizierungsangebot, wenn sie ihren Eltern das Buch zur „moralischen Satisfaktion“ vorhalten konnte. Zu verdeutlichen, dass diese Moral sich nicht ohne historischen Ort entfalten konnte und selbst an den Vorgängen, die sie kritisiert, mitunter beteiligt war, ist wohl einer jüngeren Generation vorbehalten, die nach neuen Angeboten verlangt. Handelt es sich also doch um eine Demontage, diesmal einer Elterngeneration, die das Trauerbuch begeistert gelesen hat? Dehli entkommt dem Vorwurf, wenn er sein Projekt dadurch charakterisiert, dass er die Widersprüchlichkeit seiner Figur ausloten möchte, nicht ihre Verlockungen zur Abgrenzung oder Identifikation. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.