Don Juan de la Mancha

„Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man kaum noch Sex hat, nur weil man keine Lust mehr auf Sex hat. Im Gegenteil: Ich hatte nie ein so exzessives Sexualleben wie jetzt, wo Sex mich langweilt.“ Beginn eines Romans.

1. Die Schönheit und Weisheit des Zölibats verstand ich zum ersten Mal, als Christa Chili-Schoten zwischen den Händen zerrieb,mich danach masturbierte und schließlich wünschte, dass ich sie – um es mit ihren Worten zu sagen – in den Arsch ficke. Es gebe dafür, also für die Kombination von Chili und Analverkehr, im Altgriechischen ein eigenes Verbum, sagte sie. In Wahrheit nicht für Analverkehr mit Chili, sondern mit Meerrettich, sie sagte: „Recte Meerrettich“, jedenfalls im Grunde für diese Technik. Sie sagte das altgriechische Verbum, sie schrie es, ich schrie auch, und wenn das, was ich schrie, ein Wort war, dann war es älter als Altgriechisch. Ich hatte Wasser in den Augen.Ich glaube nicht, dass ich in einem brennenden Haus größere Panik empfunden hätte.

Der Zölibat, das war leider wirklich mein Gedanke in diesem Moment, und ich sprach ihn dann auch aus, erspart zwei Arten von Erfahrung, die mit dem anderen Geschlecht unumgänglich sind: die Langeweile und den Schmerz, also das gleichsam auf das baldige Jenseits hoffende Keuchen in den Armen einer biederen oder aber, schlimmer noch, einer nicht biederen Frau. Ich sagte: Entweder hohe Minne oder gute Minne zum bösen Spiel.

„Du mit deinen Kalauern!“, sagte Christa, als ich ein Sitzbad in einem Sud aus Salbei und Kamille vorbereitete.

Sie ging, ohne sich zu duschen. Sie war in Eile, musste zu ihrer Vorlesung. Sie war Dozentin für alte Sprachen. Ich saß in der Badewanne, fror und brannte. Nie wieder wollte ich mich in ihre Hände begeben, in die Hände einer Frau. Andererseits: Ich wusste nicht, was ich, abgesehen von dem, was ich tun musste, sonst tun sollte.


2. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man kaum noch Sex hat, nur weil man keine Lust mehr auf Sex hat. Im Gegenteil: Ich hatte nie ein so exzessives Sexualleben wie jetzt, wo Sex mich langweilt.

Das hat zwei Gründe: Erstens bin ich nicht mehr nervös. Warum sollte ich in einer Situation nervös sein, die mich langweilt? Die Nervosität beeinträchtigt dieVirilität viel mehr, als dieLangeweile es könnte. Die Nervosität im Bettist menschlich, das gedankenlose Reagieren auf Reize aber ist tierisch. Der Zynismus wiederum ist menschlich. Deshalb steigt das Tier am Ende doch wieder als Mensch aus dem Bett. Zweitens aber ist die Lustlosigkeit zu wenig Grund, um an Sex desinteressiert zu werden. Im Gegenteil. Es gibt wahrscheinlich keinen Antrieb, der so gewaltig ist wie der, der in einem Mann zu glühen beginnt, wenn er die Lust verloren hat in einer Gesellschaft, die nicht einmal einen Liter Mineralwasser verkaufen kann, ohne diese Ware erotisch zu besetzen. Man kann zwar die Lust verlieren, aber man kann sie nicht vergessen. Lust ist überhaupt das Einzige, das man nicht vergessen kann. Wir wissen von Alzheimerpatienten, dass sie, völlig im Nebel ihrer Biografie versunken, spontane Erektionen bekommen. Der Trieb, die Lust zu spüren, ist bereits stärker geworden als der Trieb, sie zu befriedigen. Vielleicht liegt die Befriedigung nur darin: sie spüren zu können. Ich will sie endlich einmal so heftig, so gewaltig spüren, dass ich die Bedeutung, die sie für alle anderen hat, zumindest plausibel finden kann.

Hier ist ein Exkurs nötig. Es sind immer Exkurse nötig, daher also zunächst ein Exkurs über Exkurse: Liebessüchtige Menschen wissen, dass die absolute Mehrheit aller Tagesverrichtungen nichts mit Liebe zu tun hat, ihr nicht einmal in die Nähe kommt. Alltag, Leben überhaupt, stellt sich daher als eine unendliche Abfolge von Exkursen dar, die von der Liebe wegführen, von denen man aber hofft, dass sie sich letztlich als die einzig gangbaren Umwege herausstellen, die zur Liebe hinführen. Deshalb sind Liebessüchtige Spezialisten für Exkurse, für sie ist der Exkurs Form und Haltung des Lebens. Karrieristen sind auf Kurs, Liebende auf Exkurs.

Nun also der erste Exkurs: Als ich jung war, war das Glück alt. In der Werbung gab es nur Alte. Alle möglichen Formen des Glücks wurden von grau melierten oder weißhaarigen Männern in der Reife ihrer Jahre beglaubigt, saubere Wäsche, aromatische Kaffees, heiterer Alkoholismus – „Das ist einen Asbach Uralt wert!“, sagte im Fernsehen der Schnaps trinkende Opa, der so vorbildlich glücklich war. Wie weit entfernt mir als Kind damals das Glück erscheinen musste! Mir fehlten sehr viele Jahre, um Zutritt zum Glück zu bekommen. Als ich endlich vorrückte zur Möglichkeit, Teilhaber des Glücks zu sein, waren alle Glücklichen, die das Glücklichsein in der Werbung ausstellten, dreißig Jahre jünger. An der sauberen Wäsche erfreuten sich plötzlich Zwanzigjährige, die ihre Shirts in Fitness-Studios durchgeschwitzt hatten, selbst der Alkohol gehörte jetzt den Jungen, Studenten oder Friseurlehrlingen, die nach einem Schluck Bacardi-Rum sofort ausgelassen auf einem Palmenstrand tanzten. Wie weit zurückliegend und versäumt mir heute das Glück erscheinen muss! Es ist übertrieben, von Menschen meines Alters als von einer lost generation zu sprechen. Aber lost in commercials, das lässt sich objektiv nachweisen.

Es gab in unserer Lebenszeit keine andere Glücksversprechungsmaschine mehr, die so wirksam war wie die Werbung. Das Versprechen, Konsumverzicht zu üben, war seinerzeit keine Revanche dafür, dass wir in ihr nicht vorkamen, sondern nur der moralische Baldachin über der kargen Welt der Stipendien.

3. Körperlich fühle ich mich älter, als ich bin. Seelisch aber bin ich unreifer, als ich in meinem Alter sein sollte. Dieser Satz ist Unsinn. Sagt Hannah. Ich müsste schon öfter so alt gewesen sein, wie ich heute bin, also Vergleichsmöglichkeiten haben, um meinen körperlichen und seelischen Zustand beurteilen zu können. Wahr an dem Satz ist nur, dass man sein Alter nie wie einen Maßanzug empfindet. Nie.

4. Christa ist verheiratet. Eine Frau wie sie könnte nie von einem Mann wie mir verführt werden, wenn sie allein wäre und auf der Suche nach der großen Liebe. Aber ihr Bett ist gemacht – und daher offen für Quereinsteiger und Defizitberater. Sie liebt ihren Mann Georg. Es istglaubwürdig, wenn sie das sagt. Und es geht ihnen bestens: keineKinder, zwei gute Einkommen. Georg arbeitet in der Industriellenvereinigung. Ich glaube, er kann nicht einmal scheißen, ohne befriedigt festzustellen, dassseine Scheiße größer ist als die größte chinesische Scheiße. Wettbewerbsfähig. Er redet immerzu über den Wettbewerb. Vor allem mit China. Das sei die große Herausforderung des neuen Jahrtausends. Georg hat eine statistische Lebenserwartung von noch siebenundzwanzig Jahren, beruflich noch maximal dreizehn Jahre bis zur Alteisendeponie. Keine Kinder. Aber er redet über ein Jahrtausend. Ich misstraue sogenannten Entscheidungsträgern, die in Jahrtausenden denken. Es ist unerträglich. Es wäre unerheblich. Wir gehen essen – eine Gruppe von Freunden. Christa geht aufs Klo, eine Minute später gehe ich aufs Klo. Damen. Die Tür ist angelehnt. Christa sitzt auf der Klomuschel, ich stelle mich vor sie, sie nimmt meinen Schwanz in den Mund. Wie das klingt. Es gibt keine Worte, um diesen Irrsinn mit Würde zu beschreiben. Nur ganz kurz. Es ist kein Akt. Nur eine Szene. Sie macht drei Mal schlupp, und schon muss ich wieder einpacken. Es ging nicht um das Vergnügen, es zu tun, sondern um das Vergnügen, dann bei Tisch zu wissen, dass wir es getan haben. Christa grinst. Inzwischen reden Georg und die anderen über Wettbewerb. Christa geht zurück, eine Minute später ich. Sie würde Georg nie verlassen.
5.
Für das Glück, das man nicht hat, gibt es viele Metaphern. Zum Beispiel Trauben. Wir hatten heute keinen Aufmacher. Natürlich haben wir immer genug geschobene Artikel, die jederzeit als Aufmacher herhalten können, aber Franz fand keine der Möglichkeiten geil. Er blies daher eine kurze Agenturmeldung auf, die davon berichtete, dass Traubenkerne besonders potente „Radikalenfänger“ seien. Das habe eine neue amerikanische Studie herausgefunden. Sogenannte Freie Radikale – Franz googelte und erklärte, was das ist: „Moleküle, denen ein Elektron fehlt und die sich dieses Teil gewaltsam von einem anderen Molekül holen, das es aber selbst noch gebraucht hätte“ – führen zu vorzeitigem Altern und verkürzen daher die Lebenserwartung. Da das Zigarettenrauchen eine regelrechte Explosion Freier Radikaler im Organismus auslöse, sollten vor allem starke Raucher viel Trauben essen, deren Kerne sich als die besten Antioxidantien herausgestellt hätten. Die Kerne! Man solle sie daher nicht ausspucken, sondern schlucken. Diesen Artikel illustrierte Franz mit dem Archivfoto einer Trauben essenden Bikinischönheit. Anders als Franz nehme ich das Zeitungmachen nicht mehr ernst. Auch wenn ich manchmal sogar glaube, was wir schreiben. Ich schickte Traude, meine Sekretärin, in den nächsten Supermarkt um Trauben, rauchte und beantwortete einige E-Mails. Die Trauben, die Traude schließlich brachte und gewaschen in einer Schüssel auf meinen Tisch stellte, waren kernlos.

Das Ressort der Zeitung, für das ich verantwortlich bin, heißt „Leben“.


6. Ich schreibe kaum noch. Ich gebe im Ressort die Richtung vor. Aber die wäre auch vorgegeben, wenn ich nicht einmal mehr nickte. Manchmal redigiere ich Artikel. Dabei muss ich allerdings äußerst vorsichtig sein. Denn jeder Versuch, aus schlechtem Deutsch etwas weniger schlechtes Deutsch zu machen, oder gar aus einer Phrase einen Satz, löst bei den Mitarbeitern Aggressionen aus: Sie halten gutes Deutsch für schlechten Journalismus. Franz zum Beispiel liebt diese blöden „Gibt-sich-Sätze“. Er hält sie für Stil. Auf jedes wörtliche Zitat folgt nicht ein „sagte er“ oder „sagte sie“, sondern ein „gibt sich“ plus Name plus Adverb. „,Die neue Anti-Aging-Gesichtscreme von Revlon ist die erste mit wissenschaftlich nachweisbarem Effekt‘, gibt sich Revlon-Presse-Lady Agnes Schönborn überzeugt.“ Oder: „,Die Therme Obertuschl setzt neue Maßstäbe im Wellness-Tourismus‘, gibt sich Kurdirektor Unterpointner euphorisch.“ Ich lese das und gebe mich zufrieden. Zumal ich jetzt doch wieder selbst zu schreiben begonnen habe.

Schreiben Sie, Nathan!, hat Hannah, also Frau Dr. Singer, meine Therapeutin, gesagt, schreiben Sie alles auf! Eine Reportage über die Reise, die Sie zu diesem Punkt gebracht hat, dass Sie keine Lust empfinden. Damit können wir dann arbeiten!
Eine Autobiografie?

Nein. Eine Reportage. Das können Sie. Stellen Sie sich vor, Sie müssen eine Reportage über die Schengen-Grenze schreiben, ein Leben an der Grenze. Tote Hose. Leben hart am Niemandsland. Wohlgeordnet, aber doch irgendwie bedroht. Weil das andere so nahe ist. Soldaten mit Nachtsichtgeräten patrouillieren mit scharfen Hunden, die darauf trainiert sind, Fremde zu wittern, die da eindringen wollen. Und jetzt ersetzen Sie Schengen durch Lust. Diese Reportage will ich von Ihnen lesen, Nathan!

Das hat alles sehr früh begonnen – aber ich möchte jetzt wirklich nicht meine Kindheit durcharbeiten. Ich will mein Alter in den Griff bekommen!

Nathan, wir arbeiten nicht klassisch nach Freud. Aber jede Geschichte hat einen Anfang, Mittelteil und Schluss. Habe ich Kindheit gesagt? Nein! Und nach dem Schluss kommt der Ausweg.

Ich muss also einen Schluss finden?

Die Grenze, vor der Sie stehen. Wie sind Sie dahin gekommen? Wie ist das Leben an der Grenze?

Eigentümlicherweise vertraute ich Frau Dr. Singer. Ich dachte, sie passte zu mir. Weil ich sie für eine Scharlatanin hielt. Weil
die psychoanalytischen Begriffe, die sie verwendete, mich an New Yorker Cocktailpartys erinnerten. Und weil sie dick und herrisch war. Sie war wie meine Mutter. Mehr noch: Sie war der Inbegriff einer jüdischen Mamme. Hannah sah aus wie eine Mamme, redete wie eine Mamme, aber im radikalen Gegensatz zu einer Mamme versuchte sie nicht, mir Schuldgefühle einzuimpfen, sondern im Gegenteil, sie mir zu nehmen. Ich erzählte ihr von meinen Affären wie ein kleiner Junge, der seiner Mutter beichtet, dass er etwas angestellt habe.

Ich fühle mich schlecht, Hannah. Ich bin ein verheirateter Mann. Glücklich verheiratet! Warum bin ich so unglücklich, wo ich doch glücklich verheiratet bin? Warum tue ich das?

Unsere Aufgabe ist es nicht, Ihre Ehe zu retten, sondern Ihre Lust zu rekonstruieren. Was Sie an Ihrer Frau haben, wissen Sie. Aber was Sie nicht haben, können Sie nur bei anderen suchen. Das ist eine Frage der Logik und nicht der Moral!

Natürlich hatte ich auch Zweifel an ihrer Kompetenz. So wie sie aussah, gab es keine Chance auf Übertragung – in dem Sinn, dass ich mich in sie verliebte.


7. Ich würde nie einem Verein beitreten, sagte ich zu Hannah. Mit einer Ausnahme: wenn es einen Verein gäbe für Freie Radikale!

Bitte, Nathan, hören Sie auf mit Ihren Kalauern! ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.07.2007)

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