Amnestie und Amnesie

Sie nannten sie „Revolte“ oder „Erhebung“, „Aufstand“ oder „Abwehrkampf“, „Kreuzzug“ oder „Meuterei“: die Bürgerkriege in Österreich, Spanien und Griechenland – ein Vergleich.

Bürgerkrieg wird lexikonmäßig definiert als „bewaffneter Kampf innerhalb eines Staates zwischen Aufständischen und einer amtierenden Regierung bzw. zwischen anderen bewaffneten Gruppierungen um die Herrschaft“. Dabei sind, im Unterschied zu terroristischen Formen von Gewaltanwendung zur direkten oder indirekten Erreichung politischer Ziele, „nicht nur kleine hochorganisierte Verbände an der Auseinandersetzung beteiligt, sondern breite Bevölkerungsgruppen“, die sich in länger dauernden Kämpfen gegenüberstehen und durch tiefe politisch-weltanschauliche, sozial-klassenmäßige, ethnische, religiöse, regionale oder sonstige Konfliktlinien voneinander getrennt sind.

Es gibt kaum einen Staat in Europa, in dem nicht solche Cleavages (Klüfte) jahrhundertelang wirkungsvoll waren und immer wieder zu offenen und latenten Bürgerkriegen geführt haben. Wie die neuere Geschichte zeigt, variieren je nach Dauer, Heftigkeit und Zahl der beteiligte Kombattanten die Zahlen der beiderseitigen Opfer der direkten Kampfhandlungen, der damit einhergehenden individuellen Gewalt- und Terrorakte, der (Rache)Justiz und der indirekten Folgen von massenhafter Gewalt, etwa Hunger und Krankheiten, Vertreibungen, Deportationen und erzwungenes Exil.

Bei den hier behandelten Vergleichsfällen ist die Diskrepanz der Größenordnung besonders groß, sodass sich die Frage stellt, ob Österreich in eine Reihe mit den Bürgerkriegen in Spanien und Griechenland gestellt werden kann. Denn in unserem Land mit seinen zweifachen, jeweils nur einige Tage dauernden bürgerkriegsähnlichen Kämpfen nach dem 12. Februar und nach dem 25. Juli 1934 wurden „nur“ rund 320 respektive 250 Getötete aller Konfliktparteien gezählt. Die lange wirkenden Folgen sprechen allerdings für eine solche Typisierung. Dagegen wird die Zahl der Toten allein bei den Kampfhandlungen im fast drei Jahre dauernden Spanischen Bürgerkrieg vorsichtig auf rund 150.000 geschätzt, wozu noch einmal etwa ebenso viele Opfer der politischen Repression von „rechts“, zum Teil auch von „links“ kamen. In den drei „Runden“ des Griechischen Bürgerkriegs zwischen 1944 und 1949 dürften insgesamt ähnlich viele Menschen umgekommen sein, vielleicht ebenso viele Opfer, wie sie durch die Unterdrückungspolitik der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg, an der auch besonders viele österreichische Wehrmachtssoldaten beteiligt waren, verursacht wurden.

Bürgerkriege, insbesondere wenn sie ein bestimmtes Ausmaß an Gewalt und Dauer erreichen, haben fast immer auch zu einer Intervention ausländischer Faktoren geführt. Im Fall der beiden österreichischen Bürgerkriege von 1934, die gewissermaßen zu kurz waren, auch wenn ihnen seit 1927 eine Art „latenter Bürgerkrieg“ voranging, hätte eine längere Dauer der internen Kämpfe wohl zu einem Eingreifen des faschistischen Italien, NS-Deutschlands und vielleicht auch Frankreichs und Englands mit ihren mitteleuropäischen Verbündeten geführt. In Spanien konnte der Militärputsch in Marokko gegen die Regierung in Madrid überhaupt nur mit massiver Unterstützung Mussolinis und Hitlers zum landesweiten und schließlich erfolgreichen Kampf gegen die „rote Republik“ ausgeweitet werden, während die in sich gespaltene republikanische Seite von den westlichen Demokratien nicht oder bestenfalls halbherzig unterstützt wurde und von Sowjetrussland nur eine zweischneidige Hilfe erhielt, was de facto auch auf einen Kampf gegen die eigenen Verbündeten, nicht zuletzt gegen die in Katalonien besonders starken Anarchosyndikalisten, hinauslief.

Historische Beobachter haben im Spanischen Bürgerkrieg oft ein Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg, wenn nicht schon dessen „eigentlichen“ Beginn gesehen. Ebenso kann man im Griechischen Bürgerkrieg ein Nachspiel des Zweiten Weltkriegs sehen, der bereits unter der terroristischen Herrschaft der Wehrmacht und zum Teil innerhalb der gespaltenen griechischen Widerstandsbewegungen begann. Diese zerbrachen bald in eine vor allem in der Land- und Bergbevölkerung und in Makedonien und Thrakien starken Zulauf findende „Linke“ einerseits und in eine eher bürgerliche, teilweise kollaborationsbereite rechte Gruppierung. Zugunsten der monarchistisch-konservativen Seite griff Großbritannien während und nach der Befreiung ein, musste seine militärischer Rolle jedoch bald an die amerikanische Militärmacht abtreten.

Der blutige, eigentlich gräko-hellenische Konflikt um die politische und gesellschaftliche Gestaltung des Landes für oder gegen das von Kommunisten dominierte „linke Lager“ fand bei den angrenzenden kommunistischen Staaten (auch materielle) Sympathien, erlangte auch eine weltpolitische Dimension. Die von westlicher Seite bei Stalin (zu Recht oder Unrecht) vermutete Strategie eines Hinausgreifens über das sogenannte „Prozent-Abkommen“ (Churchills mit Stalins vom 9. Oktober 1944, das die gesamte Nachkriegsordnung in Südosteuropa vorweg nahm) führte schließlich auch zur „Truman Doktrin“ (12. März 1947), in der es vor allem um eine „Eindämmung“ des Kommunismus ging. Das von Bürgerkrieg erschütterte Griechenland wurde so zu einem wichtigen Markierungspunkt des beginnenden Kalten Krieges.

Damit ist auch ein anderer politisch-historischer Kontext angesprochen, in dem die drei hier behandelten Bürgerkriege und deren Nachgeschichten stehen: das europaweite Aufkommen faschistischer Bewegungen, konservativ-antidemokratischer Tendenzen und die Etablierung sowie Festigung totalitärer und autoritärer Regime – und schließlich, nach einigen Jahren oder Jahrzehnten, deren Überwindung durch demokratische Regierungen, meist wiederum unter mehr oder weniger direkter externer, nun westlich-demokratischer Kontrolle. So hat aus einer antifaschistischen Perspektive der „Schutzbundaufstand 1934“, nicht zuletzt auch in England, den Ruf eines „ersten bewaffneten Widerstands der Arbeiterklasse gegen den Faschismus“ erlangt, und von einem anderen Blickpunkt aus wurde, noch weniger gerechtfertigt, der SS- und SA-Putschversuch vom Juli 1934 zur „ersten Niederlage Hitlers“ und der dabei ermordete Dollfuß zu „Hitlers erstem Opfer“ stilisiert.

Damit verknüpft ist ein anderer Aspekt, der einen Vergleich von (theoretisch isolierten) Fällen in methodische Schwierigkeiten bringen könnte; es ist das von neuesten geschichtswissenschaftlichen Strömungen thematisierte, aber bisher noch kaum gelöste Problem des transnationalen Transfers von politischen Ideen und Moden, Modellen der Machtübernahme und des demokratischen Übergangs, der personellen, finanziellen und materiellen Hilfeleistungen. Unsere drei Vergleichsfälle können jedoch durch ihre räumliche und zeitliche Distanz als relativ unabhängig voneinander gedacht werden. Im internationalen Maßstab kann man das etwa auf 2000 Mann geschätzte österreichische Kontingent in den Interbrigaden, zeitweise sogar in einem Bataillon „12. Februar 1934“ zusammengefasst, relativieren, ebenso wie die geheimen Waffenlieferungen aus Steyr an „Rotspanien“. Im Gegensatz zu prominenten westlichen Linksintellektuellen und eher künstlerisch denn militärisch engagierten Sympathisanten (etwa Ernest Hemingway, George Orwell, André Malraux) gab es praktisch keinen „Revolutionstourismus“ vom Spanischen zum Griechischen Bürgerkrieg, obwohl auch italienische und jugoslawische Kommunisten, die wie Togliatti und Tito in Spanien gekämpft hatten, gute Ratschläge an die griechischen Genossen zu geben suchten.

Zweifelsohne wäre es der hohen gegenwartspolitischen Brisanz unseres Themas nicht adäquat, von der politisch-moralischen und demokratiepolitischen Grundproblematik von Bürgerkriegen vollkommen abzusehen. Bei den österreichischen Bürgerkriegen des Jahres 1934 wird man aus zeitlicher Distanz doch zweierlei sagen können: zum einen, dass – trotz aller indirekten Mitverantwortung der Sozialdemokratie an der innenpolitischen Polarisierung, die in den „12. Februar 1934“ mündete, die aufständischen Schutzbündler „selbst nach der Staatslehre des heiligen Thomas von Aquin zum Widerstand gegen eine offenbar unrechtmäßige Regierung berechtigt gewesen“ waren, wie der altkonservative Finanzfachmann Alexander Spitzmüller schrieb. Zum anderen kann auch anerkannt werden, dass am 25. Juli 1934 eine autoritär-konservative österreichische Diktatur gegen eine weitaus radikalere vollfaschistische Bedrohung aus dem eigenen Land und von Hitlers Deutschland her tatsächlich Widerstand zu leisten suchte.

Noch klarer sind die Verhältnisse in Spanien 1936: die antirepublikanischen Putschisten und Franco richteten sich gegen eine trotz aller demokratischer Mängel verfassungsmäßige Regierung, auch wenn man bedenkt, dass diese von der sich verschärfenden stalinistischen Diktatur und den ebenso wenig demokratischen kommunistischen Parteien Europas unterstützt wurde.

Dagegen ist dieselbe Frage für Griechenland wesentlich schwieriger zu beantworten: Dies betrifft die Zuweisung der Hauptverantwortung am Ausbruch und am wiederholten Aufleben des Bürgerkriegs, die kontrollierten und demokratisch stark eingeschränkten Regierungen nach 1945. Nur im Fall der Diktatur der Obristen ab 1967 ist die Antwort eindeutig.

Die Unversöhnlichkeit der Bürgerkriegs-„Lager“ und die Unversöhnlichkeit der gegenseitigen politisch-moralischen Schuldzuschreibungen nicht nur in den kollektiven Erinnerungen, sondern oft auch in der seriösen Geschichtswissenschaft tritt auch auf der scheinbar nur terminologischen Ebene zutage. Ob gravierende Gewaltereignisse innerhalb einer Gemeinschaft, einer Nation oder eines Staates als „Bruderkrieg“ oder – moderner gesagt – als „Bürgerkrieg“ oder auch als „nationale Katastrophe“ et cetera bezeichnet werden oder nicht, macht einen entscheidenden Unterschied. Denn in dem einen Fall wird der jeweilige Gegner als prinzipiell gleichrangig als Mensch, Staatsbürger, Angehöriger derselben Nation anerkannt, im anderen Fall eben nicht. So verbauen politisch-moralische Begriffe wie „Revolte“, „Erhebung“, „Aufstand“, „Abwehrkampf“, wie sie für die österreichischen Bürgerkriege bis in die 1960er-Jahre üblich waren, eher auch eine wissenschaftliche Erhellung der meist überaus komplexen Zusammenhänge.

Analoges gilt für die Metaphern vom „Kreuzzug“ gegen den Kommunismus, Faschismus et cetera, von einer „neuen Reconquista“ und der „Salvación de la patria“ (W. Bernecker), Schlagworte wie sie sich auch in literarischen Produkten, Staatsakten, Monumenten und anderen lieux de mémoire niedergeschlagen haben. In Griechenland sprach die „Rechte“ lange nur von „Meuterei“, „Banditenkrieg“ und Abwehr der „slawischen Gefahr“, die „Linke“ von “Volksbefreiungskampf“ und von einem durch den Partisanen-Mythos verklärten „Zweiten Andartiko“, wenn der Bürgerkrieg seit 1945 gemeint war.

Menschlich nicht vertretbar wäre es, wie ein österreichischer Philosoph (R. Burger) zu den Bürgerkriegen in Ex-Jugoslawien gemeint hat, solche Bürgerkriegsgesellschaften, wie sie heute auch im Nahen und Mittleren Orten und an vielen anderen Stellen der Welt vorliegen, einfach „ausbluten zu lassen“. Die Erfahrungen unserer drei Vergleichsländer scheinen dagegen einen anderen pessimistischen Schluss nahezulegen, nämlich dass in der historischen Realität der Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst harte Repression und Errichtung diktaturähnlicher Regime der Sieger über die Unterlegenen der demokratiepolitisch und menschenrechtlich nicht ermutigende Normalfall gewesen sind. In diesem Sinne könnte man den „halb-faschistischen“ autoritären „Ständestaat“ Dollfuß' und Schuschniggs ebenso wie die regimetypologisch vergleichbare Franco-Diktatur funktional auffassen: als Versuche einer Zwangsstabilisierung gespaltener Nachbürgerkriegs-Gesellschaften. Autoritäre Diktaturen können und wollen sich nicht auf eine Massenmobilisierung breiter Bevölkerungsteile verlassen, die ja eher noch im gegnerischen „Lager“ stehen; dieses Rezept undemokratischer und antimodernisierender Herrschaftsübung ist eher gegen die linken Arbeiterbewegungen wirkungsvoll gewesen denn gegen einen vollen Faschismus wie den Nationalsozialismus.

Es sieht daher aus, als hätte nach anfänglichen Abwehrerfolgen der „Christliche Ständestaat“ 1938 dem rassistisch-expansionistischen Nationalsozialismus geradezu zum Opfer fallen müssen. Franco, zunächst ganz auf die Festigung seiner noch zahlreiche Opfer fordernden und von einer Kreuzzugsmentalität geleiteten Gewaltherrschaft ausgerichtet, entzog sich einer allzu engen Umarmung durch seine radikalfaschistischen Verbündeten und einer Teilnahme am Zweiten Weltkrieg; dies hat ihm Niederlage und wahrscheinlichen Sturz schon 1945 erspart. Es könnte sein, dass gerade dadurch Spaniens Gesellschaftsstrukturen so lange eingefroren blieben, bis sie von internen Modernisierungsprozessen und von der ausgreifenden europäischen Einigung in den 1970er-Jahren aufgetaut werden konnten. Für Österreich dagegen kann man die These aufstellen, dass dieses Land aus der „retrograden Modernisierung“ durch NS-Diktatur und Weltkrieg gesellschaftlich-politisch „homogenisiert“ hervorging, als 1945 die alliierte „Befreiungsbesatzung“ eine von außen kontrollierte Rückkehr zur Demokratie, allerdings in einer modifizierten Form, ermöglichte. Diese Demokratisierung in der Zweiten Republik war allerdings eine mehrfach gebremste. Zunächst legte zwar die gemeinsame antinazistische Haltung der ehemals feindlichen sozialdemokratischen und konservativen Bürgerkriegspartner die Grundlage für einen sich in zwei Jahrzehnten entwickelnden demokratischen Grundkonsens, der vom relativ geringen antinazistischen Widerstand nur vorbereitet worden war, dann jedoch in einer österreichischen Nationsbildung gefestigt werden musste. Denn die bis in den Zweiten Weltkrieg hinein und darüber hinaus noch vorhandene Dominanz deutschnationaler Identitäten in Österreich erforderte für den auch von den Alliierten verlangten selbstständigen österreichischen Staat dessen symbolische, dann politisch-gesellschaftliche Abtrennung von Deutschland, was wiederum eine Externalisierung der (Mit-)Verantwortung am (auch österreichischen) Nationalsozialismus und dessen weitgehende innenpolitische Tabuisierung nahelegte.

Erst als sich die österreichischen Nation in den 1970er-Jahren stabilisiert hatte, konnten – mit einer weiteren Verzögerung – ab den 1980er-Jahren die gesellschaftlichen und mentalen NS-Erbschaften, vor allem seit der „Waldheim-Affäre“, offen aufgegriffen werden. Diese Gründungskonstellation jedoch bedeutete auch, dass die autoritäre Vergangenheit des konservativen Teils der langjährigen ÖVP-SPÖ-Koalitionsregierungen nicht aufgegriffen wurde. Eine tabuisierte undemokratische Vergangenheit überlagerte also eine andere und ließ nur alternativ-selektive Erinnerungen zu. Gesamtgesellschaftlich überhöht wurde diese Konstellation durch die Sozialpartnerschaft, die Konfliktausgleich und Wirtschaftswachstum durch Einschränkung liberal-demokratischer Konkurrenz erkaufte. Der politische Bruch von 1945 vollzog sich paradoxerweise in weitgehenden gesellschaftlichen und politisch-elitenmäßigen Kontinuitäten mit den zwei vorangegangenen unterschiedlichen diktatorischen Perioden.

In Spanien weist die erst in den 1970er-Jahren einsetzende transición ähnliche Strukturmerkmale wie der österreichische Vergleichsfall auf; allerdings ging der Übergang zur Demokratie aus dem Inneren des spätfrancistischen Regimes und von dessen Eliten hervor, wobei er auch vom Entstehen gewerkschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Bewegungen charakterisiert war. Bei einer weitgehenden Elitenkontinuität und einem langen Verschweigen der Verantwortung des konservativen Lagers an der Diktatur und an deren Verbrechen, aber auch der brutalen Auseinandersetzungen innerhalb des republikanischen Lagers erfolgte oberflächlich eine Amnestie durch Amnesie. Erst eine politische Generation später begann ein Prozess der erinnerungs- und justizpolitischen Aufarbeitung dieser – vielleicht zuerst unabweisbaren – diktatorischen Erblasten auch in Spanien. In Spanien wie in Österreich jedoch scheinen die Demokratisierungsprozesse in einer ähnlichen Weise von geteilten „kollektiven Gedächtnissen“ begleitet (gewesen) zu sein; solche waren und sind hier je nach politisch-sozialen Lagern oder nach Peripherie-Zentrum-Konflikten nach vertikalen Cleavages und horizontal durch öffentliches Schweigen versus private und familiäre Gegenerinnerungen getrennt.

Der dritte unserer Vergleichsfälle weicht, trotz einer ähnlichen autoritär-diktatorischen Vorgeschichte, beträchtlich von den beiden anderen ab. Nicht nur unterschied sich Griechenland politisch und gesellschaftlich, sondern auch kulturell und religiös gravierend von Österreich und Spanien; auch zeitlich und geopolitisch fand der offene Bürgerkrieg in einem anderen Kontext statt. Das Griechenland der drei Jahrzehnte nach 1945 stellt geradezu ein Gegenmodell in Form einer zunächst scheiternden Demokratisierung dar: Anfangs autoritären oder stark limitierten parlamentarischen Regierungen in den ersten zwei Jahrzehnten und einem kurzen, auch von der Monarchie nicht unterstützten Demokratisierungsversuch folgte ein anachronistisch wirkender Rückfall in die siebenjährige Militärdiktatur (1967–1974).

Erst danach vollzog sich, nun annähernd parallel und zeitgleich zu den spanischen und portugiesischen Fällen, ein erfolgreicher Übergang zur Demokratie; dieser weist allerdings noch krasser als in Österreich oder Spanien heute die Phänomene der geteilten Erinnerungen und des Schweigens sowie des öffentlichen Ausblendens oder Umschreibens wesentlicher und traumatischer historischer Erfahrungen auf, die im gesellschaftlichen Untergrund noch „lebendig“ sind.

Bürgerkriege stehen in langen Traditionen von tiefgreifenden Konflikten der jeweiligen Gesellschaft und politischen Kultur; diese longue dureé verschärft sich unter bestimmten zeitspezifischen oder generellen Bedingungen zur offenen, organisierten Gewalttätigkeit und wirkt dann zugespitzt noch weiter, auch wenn eine Seite als Sieger aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen ist, diktatorisch oder mindestens nicht-demokratisch regiert und die unterlegene Seite zum scheinbaren Akzeptieren des Faktischen gezwungen hat.

Ein solcher latenter Bürgerkrieg könnte erst „in mildere Formen überführt werden, wenn die Orthodoxien und herrschenden Systeme es wagen würden, in ein offenes ,Gespräch der Feinde‘ einzutreten, sich zum Gedanken des Wettstreits und Spiels zu bekennen“, hat Friedrich Heer gemeint. Wie Kollektive und Individuen auch mit den „Bürgerkriegen im Kopf“ fertig werden, wie eine politisch-gesellschaftliche Konfliktreduktion, gleich welcher Art, erzielt wird, ist ein eminent demokratiepolitisches Problem auch im heutigen Europa und anderswo, wo Demokratien aus blutigen Bürgerkriegen hervorgegangen sind oder geschaffen werden sollen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2007)

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