Wo die Toleranz endet

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Nun sag, wie hast du's mit der Religion? Gretchens Frage und ihre neue politische Brisanz: Wie haben wir's mit den Religionen?

Nun sag, wie hast du's mit der Religion?“ Mit dieser Frage quält Goethes Gretchen ihren Geliebten, und Faust weiß darauf keine rechte Antwort. Seine unmittelbare Reaktion ist dann auch typisch für eine moderne Befindlichkeit: „Lass das, mein Kind.“ Über Religion spricht man nicht. Sie ist eine Privatsache, so sehr, dass sie nicht einmal die Intimität zwischen zwei Menschen tangieren sollte. Vorab indiziert diese Szene allerdings einen nicht zu unterschätzenden Wandel im Umgang mit der Religion. Noch wenige Jahrzehnte bevor Goethe den ersten Entwurf der Faust-Tragödie schrieb, wäre die Frage eines jungen Menschen an seinen potenziellen Liebespartner eine andere gewesen: Katholisch oder lutherisch? Die Aufklärung hat schon ihre Spuren hinterlassen, nicht mehr die Frage nach dem rechten Glauben dominiert den Diskurs, sondern die nach der Stellung des Menschen zum Phänomen des Religiösen überhaupt.

Fausts zweite Reaktion weist dann der Religion einen Platz zu, der ihr jede Verbindlichkeit abspricht: „Du fühlst, ich bin dir gut; / Für meine Lieben ließ' ich Leib undBlut, / Will niemand sein Gefühl und seine Kirche rauben.“ Faust ist natürlich tolerant. Und er beansprucht für sich selbst, ethischen Maximen wie dem Liebesgebot oder der Verpflichtung zur Solidari-
tät auch ohne Religionfolgen zu können. Fürdie Moral, so dürfen
wir Faust interpretieren, stellt die Religion einemögliche, aber keinenotwendige Bedingungdar. Und insofern sicheine Religion als moralische Instanz sieht, wird sie mit dieser Einschränkung leben müssen. Gute Menschen gibt es überall, böse auch. Die mittlerweile wieder gern gestellte Fragen, ob religiöse Menschen in einem ethischen Sinn bessere Menschen als areligiöse seien, entbehrt übrigens nicht einer gewissen Komik, da diese Frage nur sinnvoll gestellt werden kann, wenn ein nichtreligiös fundiertes Kriterium zur Beurteilung moralischer Qualitäten vorausgesetzt wird. Im Übrigen verlaufen sich solche Fragen in einem Zirkel, der etwa folgendermaßen beschrieben werden kann: Menschen, die bestimmte moralische Vorstellungen haben und denen es gelingt, danach zu leben, sind, gemessen an diesen Vorstellungen, besser als Menschen, die diese Vorstellungen nicht haben oder denen es nicht gelingt, danach zu leben. Das Weltethos, das man mitunter in allen Religionen entdeckt, erweist sich dann auch als Projektion dieser säkularen Wertvorstellungen in die Sittenlehre der Religionen, bei der alle transzendenten Bezüge und alle Gebote, die diesem säkularen Moralverständnis widersprechen, ausgeklammert werden müssen.

Erst Fausts Ausweichmanöver treibenGretchen dazu, die für sie entscheidendeFrage zu stellen: „Glaubst du an Gott?“ Und Faust tut alles, um auch diese, gerade diese Frage nicht beantworten zu müssen. Im Grunde will er die Frage vom Tisch haben, in Dingen der Religion herrscht keine Auskunftspflicht. Der Glaube – und Sören Kierkegaard wird wenige Jahrzehnte später dies bis in die letzte Konsequenz durchbuchstabieren – ist letztlich nicht kommunizierbar. Jedes Bekenntnis ist ein Lippenbekenntnis, der Glaube selbst ist stumm. Zu dieser Radikalität ist Faust noch nicht fähig. Er umkreist die Frage und beginnt, wie Kant es vielleicht genannt hätte, zu vernünfteln: Zuerst stellt er die Legitimität der Frage nachGott zur Disposition –„Wer darf ihn nennen? / Und wer bekennen: / Ich glaub' ihn“ –, dann flüchtet er in die Beschwörung von Empfindungen: „Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ichhabe keinen Namen /Dafür! Gefühl ist alles.“ – Gefühl ist alles! Es ist, als ob Faust hier schon jene romantische Religiosität antizipiert, wie sie Jahre später Friedrich Schleiermacher formulieren wird: Religion ist Sinn und Gefühl für das Unendliche. Die gegenwärtig gern gebrauchte Formel von den „religiösen Gefühlen“ und ihrer Verletzungsanfälligkeit könnte auch als prekäre Schwundstufe dieser romantischen Konzeption gedeutet werden. Faust repräsentiert aber auch eine moderne, pantheistisch angehauchte Vernunftreligion, mit der wohl auch Goethe selbst kokettiert hat. Dass dabei alles, was er sagt, nur Ausflucht ist, nicht ernst gemeint, tut dem keinen Abbruch: Dieser Unernst ist integrales Moment einer Haltung, die man mit einem moderneren Wort „Spiritualität“ nennen könnte.

Faust zitiert einige, nicht alle Spielartensolch eines spirituellen Bewusstseins: keinpersönlicher Gott mehr, keine Konfession,keine Glaubensgemeinschaft, keine Kirche, keine damit verbundene sittliche Weltordnung – aber das Gefühl einer Allheit und Allverbundenheit, emotionale Übereinstimmung mit dem Weltganzen, das Absolute als Chiffre für die Liebe. Große Worte, ein Hymnus, wie die Goethe-Adepten beteuern, und dahinter ein eindeutiges Ziel: das 14-jährige Gretchen zu verführen. Dieses jedoch bleibt hartnäckig, lässt sich nicht von den gewundenen Gedankenfiguren des gelehrten Doktors irritieren. Dessen Wortschwall: ein Ausweichmanöver.

Fausts Dilemma lässt sich vielleicht so beschreiben: Er kann nicht mehr glauben und ist noch kein kämpferischer Atheist. Sein Entwurf einer pantheistisch gefärbten Gefühlsreligion, seine schwammige Spiritualität können Gretchen nicht überzeugen. Ihr Befund ist klar: „Du hast kein Christentum.“ Diese Einsicht wird sie nicht davon abhalten, Fausts Drängen nachzugeben. Ihr eigenes sinnliches Verlangen ist größer als ihr Glaube. Dafür wird sie büßen und von Goethe erst in einem zweiten Anlauf halbherzig erlöst werden.

So weit, so gut. Gretchens Frage zeigt sich heute in mehreren Facetten. Als Testfrage fürangehende Liebesbeziehungen hat sie – außer in fundamentalistischen Kreisen – ihre Bedeutung wohl einigermaßen verloren. DieFrage danach, wie man es mit der neuesten Popgruppe halte, wird bei aufkeimenden Geschlechtspartnerschaften öfter gestellt werden. Die generelle Frage nach Gott, seiner Funktion und Existenz erfreut sich hingegen zunehmender Beliebtheit. Die Debatten, ob aus der Organisation des Universums oder aus dem Prinzip der Evolution auf die Spuren eines Schöpfers zu schließen sei oder ob aus eben diesen Befunden die Nichtexistenz Gottes bewiesen werden kann, muten nach 200 Jahren Aufklärung und Religionskritikzwar einigermaßen anachronistisch an, entbehren aber nicht eines gewissen Reizes. Vernunftargumente für oder gegen die Existenz Gottes tragen zwar nichts zur Klärung dieser Frage bei, aber diese fungiert als Wetzstein, an dem sich die Vernunft selbst schärfen kann.

An Gottesbeweisen und ihren Widerlegungen können wir, sind sie nur anspruchsvoll genug, die Eleganz und Scharfsinnigkeit bewundern, die von der Vernunft aufgeboten werden, um dem Herr zu werden, was alle Vernunft übersteigen soll. Immanuel Kant hat versucht zu zeigen, dass alle Gottesbeweise prinzipiell ebenso scheitern müssen wie alle Versuche, die das Gegenteil im Sinne haben. Was an den gegenwärtigen Debatten über Intelligent Design auf der einen Seite und über die Möglichkeiten, aus den Erkenntnissen von Kosmologie, Evolutionsbiologie und Genetik Gott endgültig den Garaus zu machen, einigermaßen verwundert, ist ein Argumentationsniveau, das den von Kant in diesen Fragen vorgelegten Reflexionsstandard kaum je erreicht. So viel zum Fortschritt im Denken.

Wie hast du's mit der Religion? Die postkantianische Aufklärung des 19. Jahrhunderts gab Gretchens Frage eine Stoßrichtung, die sowohl die individuellen Glaubensformen als auch die Frage nach der Existenz Gottes systematisch ausklammerte und Religion als soziales und psychogenetisches System interpretierte, das in seiner Funktionalität begriffen werden sollte. Das Pathos dieser Versuche resultiert aus der Überzeugung, dass die Religion ihre transzendente Dimension, ihren Heiligenschein, wie Marx schrieb, verlieren werde, wenn erst einmal klar sei, dass es sich dabei um ein durch und durch irdisches Unternehmen handle, weil alle Götter letztlich im doppelten Sinn Projektionen des Menschen seien: Es ist der Mensch, der diese Projektionen vornimmt, undes ist der Mensch, dersich dabei selbst ins Unendliche vergrößert. Diese im Wesentlichen von Ludwig Feuerbach entwickelte Denkfigur initiierte eine Kette religionskritischer Konzepte, die, mit unterschiedlichen Akzenten, vonMarx über Nietzsche bis zu Freud reicht. In einer forcierten Entfaltung dieser Kritik ist Religion dann nichts anderes als die inverse Projektion der Sorgen und Nöte, Hoffnungen und Ängste des Menschen auf die Leinwand einer imaginären Ewigkeit. All das, was in der Wirklichkeit fehlt, findet sich in der Welt der Religion. Die Religion spiegelt nicht Wirkliches, sondern Fehlendes. Während die Vampire sich nicht im optischen Spiegel sehen können, zeigt der Spiegel des religiösen Bewusstseins das, was in der Wirklichkeit nicht zu sehen ist. Die Defizite der Wirklichkeit erscheinen als Mehrwert der Religion.

Diese Religionskritik hat in der europäischen Moderne ihre deutlichen Spuren hinterlassen. Sie stellt gleichsam den theoretischen Rahmen für jene Entzauberung der Welt dar, die für den Soziologen Max Weber zu den entscheidenden Signaturen der Moderne zählt. Die Soziologie hat allerdings auch gezeigt, dass dieser Prozess der Desillusionierung widersprüchlich ist. Niklas Luhmann zumindest hat in seinen systemtheoretischen Beschreibungen der Religion die Idee verabschiedet, dass die Aufklärung über die gesellschaftliche Funktion der Religion schon imstande wäre, diese Funktion zu substituieren. Die gesellschaftliche Funktion von Religionen liegt nach Luhmann darin, eine Form von Sinn zu generieren, die nicht leicht von anderen sozialen Systemen übernommen werden kann. Gott ist eine nur schwer überbietbare „Kontingenzformel“, die es erlaubt, die Welt und ihre Endlichkeit überhaupt erst in den Blick zu bekommen, in dem man sie von einer Nichtwelt, von einer Transzendenz, von einem außerhalb stehenden Beobachter unterscheidet. Natürlich sind diese Konzepte Schöpfungen des Menschen – damit sie aber ihre soziale Funktion erfüllen können, muss dieses Wissen zurückgehalten werden. Religionssoziologie, so Luhmann, lebt davon, dass es Religionen gibt, die nicht an die Religionssoziologie glauben.

Prekär wird es allerdings nach Luhmann, wenn die religiösen Kontingenzbewältigungsformeln mit moralischen Ansprüchen und sozialen Systemen kurzgeschlossen werden. Dies führt zu jenen Entlastungen, die politisch als Enthemmungen bemerkbar werden: Dann wird aus Glaubensgründen nach Herzenslust gefoltert und gemordet. Damit allerdings ist der dritte und entscheidende Punkt berührt, der Gretchens Frage heute akzentuiert: Wie haben wir es mit der Religion als Ausdruck und Moment einer Kultur, einer sozialen und moralischen Lebensform, die durchaus in Konflikt mit jenen Rechtsordnungen gelangen kann, die in differenzierten Gesellschaften die moralisch-religiösen Diskurse aufgefangen und abgelöst haben sollten. Die tolerante Maxime des Preußenkönigs Friedrich II., nach der jeder nach seiner Façon selig werden solle, ist wörtlich zu nehmen: Wie jemand glaubt, zu seiner ewigen Seligkeit kommen zu können, soll ihm überlassen bleiben. Der Satz lautet nicht, jeder solle nach seiner Façon leben. Die Seligkeitspraktiken haben deshalb nur als Ausdruck einer individuellen Entscheidung im privaten Raum und dann im Jenseits ihren Platz.

Eine säkulare individualisierte Gesellschaft hat kein Problem, unzählige individualisierte Glaubensvorstellungen tolerant zu behandeln; sie kann auch noch davon abgeleitete Lebenskonzepte akzeptieren, sofern diese nicht mit den allgemeinen Rechtsnormen kollidieren. Sie wird aber prinzipiell in Schwierigkeiten geraten, wenn sich Religionsgemeinschaften als Teilgesellschaften verstehen, die ihre eigenen Rechtsvorstellungen generieren, egal wie diese aussehen. Moderne Gesellschaften sind gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie eine säkulare Verrechtlichung des Lebens vorantreiben bei gleichzeitiger Entschärfung der Frage nach dem rechten Glauben. Die gegenwärtig stark forcierte, erneute Engführung von moralischen Konzepten und religiösen Überzeugungen, von Religion, Kultur, Identität und Lebensform stellt so gesehen einen zivilisatorischen Rückschritt dar. Programmatisch für moderne Gesellschaften wardie Entkoppelung vonMoral, Recht und Religion. Wer diese Umkehrbewegung, aus welchen Motiven auch immer, propagiert oderverteidigt, sollte zumindest sagen können, wo- rin für die Menschender Vorteil dieser Entwicklung eigentlich liegen soll. – Gretchens Frage entfaltet ihre aktuellste und politisch brisanteste Gestalt deshalb im doppelten Plural: Wie haben wir es mit den Religionen. Das Problem sind weder die individuellen Bekenntnisse traditioneller Gläubigkeit noch die Sinnmärkte und Spiritualitätsbasars, die als Segmente der emotionalisierten Freizeit- und psychogenen Wellnessindustrie die eine oder andere Komplexität reduzieren; das Problem sind auch nicht religiös motivierte Lebensentwürfe, solange sie der Souveränität und Verantwortlichkeiten des Einzelnen unterliegen und mit den sonstigen akzeptier-
ten Rechtsnormen nicht konfligieren. Wer freiwillig in ein Kloster geht und sich dem Zölibat unterwirft, wird wissen, was er tut. Kommentare entrüsteter Agnostiker, die den Zölibat in der katholischen Kirche abschaffen wollen, sind deshalb ziemlich überflüssig.

Das Problem liegt in der Reetablierung ei- nes Konzeptes von Religion, das es erlaubt, diese als Gemeinschaft zu denken, die nicht nur diese Souveränität des Einzelnen bezweifelt und so weit wie möglich beschneidet, sondern auch für ihre Lebensform und die dazugehörigen Wertvorstellungen ei- nen Sonderstatus gegenüber den Rechtsnormen der Gesellschaft, in die sie eingebettet ist, beansprucht. Über die soziale und kulturelle Bedeutung, die religiöse Vorstellungen, Rituale, Werte und Praktiken auch für eine säkulare Gesellschaft haben können, kann man durchaus unterschiedlicher Meinung sein. Das Gebot der Toleranz verlangt aber nicht, jene religiösen Haltungen zu akzeptieren oder gar zu privilegieren, die die Vorstellung von der individuellen Freiheit und Würde des Menschen restringieren oder überhaupt in Frage stellen.

Faust wusste auf Gretchens Frage keine rechte Antwort. Den Glauben wollte er ihr nicht nehmen, und aufklären wollte er sie so oder so nicht. Das erinnert an die Haltung, die man heute gerne als tolerant empfindet. Faust ließ es schließlich bleiben und machte sich ans Werk der Verführung. Das aber ging nur mit der Hilfe des Teufels. Fraglich, ob das die beste Lösung war. Aber was wäre die Alternative gewesen? ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2007)

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