Wissenschaft: Tabletten, die dick machen, bitte!

Wien soll ein Zentrum der Tuareg-Forschung werden. Die Konferenz „Tuareg? Moving Global“ macht den Auftakt.

„Blaue Ritter der Wüste“ nannte sie der Europäer auch, aufgrund ihrer dunkelblauen Gesichtsschleier. Wegen ihrer Aufstände gegen die französische Kolonialmacht wurden die Tuareg nicht nur umgebracht, sondern auch als Freiheitskämpfer gefeiert. Heute lebt das berberstämmige Nomadenvolk der Sahara und des Sahel verstreuter denn je, großteils in Mali, Niger, Libyen und Algerien, als Nomaden, „Borderline“ und Sesshafte. Die Globalisierung hat sie verändert, das betrifft Lebens- und Denkweisen ebenso wie die neokolonialen Ausbeutungspraktiken multinationaler Konzerne, denen sie etwa im Niger ausgesetzt sind.

Darum geht es auch bei der internationalen Konferenz „Tuareg? Moving Global“ in Wien (31. Mai bis 2. Juni). Ines Kohl von der Forschungsstelle Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) will gemeinsam mit der Universität aus der Bundeshauptstadt ein europäisches Zentrum der Tuareg-Forschung machen.

Kohl selbst untersucht unter anderem Veränderungen in der Ästhetik. „Die Jungen orientieren sich schon am westlichen Schönheitsideal, die ältere Generation bevorzugt noch Leibesfülle“, erzählt sie. Viele ohnehin schon füllige Frauen würden sich heimlich „mästen“. „Sie fragen mich jedes Mal, ob ich ihnen aus Europa Tabletten mitbringen könnte, damit sie dicker werden.“

Kohl konzentriert sich auf die „Ishumar“, die in Libyen lebenden Tuareg, die ihr Nomadentum aufgaben und nach Libyen migrierten. Von dort aus fahren sie häufig als Schmuggler zwischen Libyen, Mali, Algerien und Niger hin und her. Den „Chèch“, den männlichen Gesichtsschleier, bekamen die jungen Männer früher mit ungefähr 20 Jahren geschenkt, er war ein Zeichen des Übergangs ins Erwachsenenalter. „Das damit verbundene Ritual interessiert hier niemanden mehr“, sagt Kohl. „Die Männer kaufen sich ihn, wenn sie zum ersten Mal mit dem Auto über die Grenze fahren.“

Wahre Schönheit in den Werten

Die „Ishumar“ haben auch einen völlig neuen Musikstil entwickelt, er nennt sich „Guitar“ und wird meist in einer Kombination aus Gitarrenkonzert und Tanzparty praktiziert. „Da spielt man mit E-Gitarre und Schlagzeug, zieht aber die schönste traditionelle Kleidung dazu an. Auch die Texte enthalten viel Tradition. Die Männer gehen auch zum Heiraten lieber in die Sahara zurück, Frauen aus der Migration gelten als zu anspruchsvoll.“ Und „schön“ sei eine Frau für die Männer nicht nur wegen ihres Äußeren, sondern auch, wenn sie die traditionellen Wertvorstellungen verkörpere.

„Tuareg? Moving Global“: 31.5.-2.6., Akademie der Wissenschaften (Wien 1, Dr. Ignaz-Seipel Platz 2). Infos: (01) 51581-1218.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2007)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.