Interview: Europas 50 fette Jahre sind vorbei

(c) APA (Philipp Wilhelmer)
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Der Grazer Soziologe Manfred Prisching erwartet chaotische Jahre für die EU. Am Rand der Sommer-Universität in Seggauberg erklärte er, wieso.

Die Presse: Hier bei der Sommer-Universität in Seggauberg denkt man über europäische Kulturen nach. Sie waren einige Zeit in den USA. Gibt es zwischen diesen beiden westlichen Kulturen wesentliche Unterschiede?

Manfred Prisching: Ja – obwohl sie aus denselben zentralen Ideen gewachsen sind. Sie haben sie aber ganz anders ausgeformt. Es ist für Europäer oft schwer, Denkweise und Weltbild der Amerikaner zu verstehen, das steckt hinter manchen transatlantischen Spannungen. Zum Beispiel das Gesundheitssystem: Gesundheit ist in den USA eine individuelle Verantwortung. In Europa ist das nur schwer verständlich, hier setzt man ein staatliches Gesundheitssystem voraus. Aber ich stimme mit dem Autor Jeremy Rifkin überein, dass die Lebensqualität insgesamt in Europa höher ist als in den USA.

Wie steht es bei diesem Vergleich mit der Bildung? Sie haben zwei Kinder. Wo sollten Sie Ihrer Meinung nach studieren?

Prisching: Paradoxerweise haben die Amerikaner zwar im Durchschnitt kein besonders gutes Bildungssystem, schaffen es aber, ihre Universitäten so attraktiv zu machen, dass viele dort studieren und forschen wollen. 40 Prozent der Forscher in den USA sind aus der EU. Es gibt also nicht nur einen Braindrain aus den weniger entwickelten Ländern, sondern auch aus Europa.

Sie haben Daten vorgelegt, denen zufolge Österreich zu den am stärksten globalisierten Staaten gehört. Ist das positiv oder negativ?

Prisching: Globalisierung ist für Staaten, die daran teilhaben, im Hinblick auf Wachstum und Verteilung so übel nicht; aber viele Länder werden ausgeschlossen. Eine spezielle Zone hoffnungsloser Armut ist Afrika. Viele Länder Afrikas sind politisch instabil, haben eine ausbeuterische herrschende Klasse, keine Rechtssicherheit, eine korrupte Regierung. Die Rohstoffe Afrikas sind aber für westliche Konzerne und Staaten wie China interessant, das verschärft oft die Probleme.

Kann man also behaupten, dass die Globalisierung ein Trick der entwickelten Länder ist, um die unterentwickelten zu beherrschen?

Prisching: Es gibt in der Globalität kein Zentrum, keinen übermächtigen Staat, der diesen Prozess tatsächlich steuern oder regulieren kann. Machtausübung basiert in diesem Spiel nicht auf militärischer Macht, sondern auf der Macht, weitgehend institutionelle Spielregeln bestimmen zu können, etwa jene der Welthandelsorganisation, der Weltbank oder des Währungsfonds.

Sie haben behauptet, dass Rumänien ökonomisch erst in ca. 80 Jahren zur EU aufgeschlossen haben wird. Eine legitime Voraussage?

Prisching: Nein. Ich habe Berechnungen des „Economist“ zitiert, der von den derzeitigen Wachstumsraten ausgeht: Westen 2%, Nachzügler 3 bis 4%. Es gilt, überzogene Erwartungen zu dämpfen, dass schon in 20 Jahren Länder wie Rumänien so reich sein werden wie die westlichen Länder.

Glauben Sie, dass die neuen Mitglieder für die EU eine Bedrohung darstellen?

Prisching: Europa hatte in den vergangenen 50 Jahren ein schönes „Window of Opportunity“. Es war eine hervorragende Periode, wirtschaftlich, politisch und kulturell. Ich glaube nicht, dass wir diese Erfolgsgeschichte in diesem Ausmaß wiederholen können. Die Weltmarktsituation verschärft sich; politisch bröckeln Freiheiten in Zeiten des Terrors; kulturell bringt Heterogenität stärkere Konflikte.

Was erwarten Sie also von der EU in den nächsten 20 Jahren?

Prisching: Derzeit hat die EU eine chaotische Struktur, sie ist stark fragmentiert in ihrer Organisation, mit vielen Plattformen, Arenen, Mitspielern, die viel aushandeln, kompromisshaft, oft undurchschaubar. Das wird andauern, und langsam, hinterrücks, wird sich eine stärkere Autorität herausbilden – ein Prozess heimlicher Staatswerdung.

Derzeit haben wir Hunderte Seiten einer Europäischen Verfassung in Diskussion. Glauben Sie nicht, dass es besser wäre, eine Verfassung in nur fünf Sätzen zu formulieren?

Prisching: Für das tägliche Geschäft, den politischen Alltag, die Koordination von 27 oder mehr Ländern braucht man viele Regeln. In Wahrheit umfasst das nicht hunderte, sondern zehntausende Seiten. Wenn man sich auf fünf Sätze beschränkte, wäre das höchstens ein Marketing-Statement.

Was ist also das Herz Europas und seiner Kultur? Manche glauben, es schlägt in Brüssel.

Prisching: Ich glaube nicht, dass Europa ein lokalisierbares Herz hat. Europa ist eher eine Idee als ein Territorium. Europa besteht in kulturellen und historischen Idealen, in einer Lebensweise, die in 2000 Jahren gewachsen ist und vor allem dem Prinzip der Freiheit Raum gibt.

SEGGAU: European Cultures

http://international.uni-graz.at/
seggausummerschool("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.07.2007)

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