Alkohol und Spielautomaten: Dort, wo 90 Prozent Arbeitslose sind

An der ungarisch-rumänischen Grenze ist von Wirtschafts-Aufschwung wenig zu spüren.

Budapest/Bagamér. „Hinter dem Rücken Gottes.“ So umschreibt ein ungarisches Sprichwort eine Ortschaft, die an der existenziellen Peripherie im Dornröschenschlaf vor sich hin dämmert. Die abgeschiedene 2700-Seelen-Gemeinde Bagamér an der ungarisch-rumänischen Grenze ist so ein Ort. Bar jeder Hoffnung und Perspektiven. Die schmuddelige Dorfkneipe ist Angelpunkt des sozialen Lebens. Ferenc, 29, steht dort lässig mit einer Bierflasche in der Hand an der Theke. Er kann gerade mal fünf Klassen Schulbildung aufweisen und ist arbeitslos. Damit ist er in Bagamér keine Ausnahme: Die Arbeitslosenrate liegt bei mehr als 90 Prozent.

Ferenc erzählt, dass er knapp mehr als 23.000 Forint (rund 90 Euro) Arbeitslosengeld bekomme. Darüber hinaus erhalte er etwa 50.000 Forint staatliche Kinderbeihilfe für seine fünf Kinder. „Das reicht für gar nichts.“ Um für den Unterhalt seiner Großfamilie zu sorgen, müsse er auch „krumme Dinger“ drehen. „Ich stehle Fahrräder, Schweine, Hühner, dies und jenes.“ Wegen dieser kleinkriminellen Handlungen sei er mehr als fünf Jahre in diversen ungarischen Gefängnissen eingesessen. László, der ebenfalls an der Theke steht, wirft ein: „Hier gibt es keine andere Möglichkeit, als zu stehlen.“ Und er fügt resigniert hinzu: „Bagamér ist ein verlorenes Dorf.“

Krenanbau als Strohhalm

Sándor, ein Vertreter der örtlichen Roma-Minderheit, betont, dass der Anbau von Kren derzeit der einzige Strohhalm für die Gemeinde sei. Er verweist darauf, dass Bagamér und dessen Umgebung in Ungarn das Meerrettichanbaugebiet schlechthin seien. Allerdings biete der Krenanbau nur Saisonarbeit, rund zwei bis drei Monate im Frühling und Herbst. Viele Einwohner von Bagamér sind auf den Meerrettichfeldern als Tagelöhner tätig. Im Durchschnitt verdient ein Tagelöhner rund 3000 Forint pro Tag. Wenn es keinen Krenanbau gebe, „wäre hier die Hölle los“, sagt Sándor. Bagamér würde in „Verbrechen und Anarchie versinken.“

Die rund tausend Roma in Bagamér, meint Sándor, würden unter der Diskriminierung der ungarischen Mehrheitsgesellschaft leiden. Die Benachteiligung der „Zigeuner“ fange schon in der Schule an. Auf dem Arbeitsmarkt wiederum wiesen viele Arbeitgeber die Roma wegen ihrer dunklen Hautfarbe ab. Sándor räumt allerdings ein, dass die Roma in vielen Fällen selbst an ihrer tristen Lage schuld seien. Bei vielen „Zigeunern“ in Bagamér sei in Sachen Arbeit „Widerwilligkeit“ zu beobachten.

Der sozialistische Bürgermeister von Bagamér, Mihály Orvos, stößt in dasselbe Horn: Die Einstellung vieler Roma lasse zu wünschen übrig. Laut Orvos ist das Gros der Zigeuner außerstande, sich aus eigenen Stücken Arbeit zu suchen. „Sie warten darauf, dass ihnen unter die Arme gegriffen wird.“

„Sozialhilfe wird verjubelt“

Der Bürgermeister weist darauf hin, dass viele auch dazu neigen würden, die Sozialhilfegelder einfach zu verjubeln. Während in Bagamér im Vorjahr annähernd 100 Mio. Forint an diversen Sozialförderungen verteilt worden seien, sei von den Einwohnern der Gemeinde etwa dieselbe Summe für Alkoholika und Spielautomaten ausgegeben worden. Den Schlüssel für den Ausweg aus der örtlichen Misere, sieht er zum einen in der Schul- und Weiterbildung der Menschen, zum anderen im Ausbau der Verkehrsinfrastruktur.

Mehr Eigeninitiative notwendig

Die Unternehmerin Éva Reviczky ist der Ansicht, dass die Einwohner von Bagamér zu mehr Eigeninitiative angeregt werden müssen. Statt mit Fischen gefüttert sollte ihnen das Fischen beigebracht werden, meint sie sinnbildlich. Reviczky leitet einen Betrieb, der den Kren vornehmlich nach Deutschland exportiert. „Zwischen 180 und 200 bäuerliche Familienbetriebe beliefern uns, was bedeutet, dass wir etwa 1000 bis 1500 Menschen indirekt Arbeit geben“, erklärt die Geschäftsfrau.

Viel Dank erntet Reviczky, die auch Gemeinderätin für die bürgerlich-konservative Opposition ist, dafür nicht. Viele Menschen im Ort seien verhärmt und des Lebens überdrüssig. „Immer wieder erhängt sich jemand“, sagt sie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.02.2007)

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