Gastkommentar

Die Stimmung kippt: Was kommt jetzt?

Peter Kufner
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Bericht aus Jerusalem: Seine Einschätzung der aktuellen Lage in Israel hat der Leiter des Österreichischen Pilger-Hospiz in Jerusalem für uns verfasst.

Kon-Text ist – wie der Name sagt – der Text, der mit einem anderen Text zusammengeht. Also: Die Zusatzinformation, die Sie brauchen, wenn Sie nicht nur an der Oberfläche bleiben wollen. Wir alle hier – und das eint gerade Israelis und Palästinenser – fragen uns: Wie werden die kommenden Wochen für uns hier aussehen?

Und es gibt so viel mehr Fragen: Werden die Geiseln im Gazastreifen öffentlich hingerichtet? Wie wird darauf die israelische Öffentlichkeit reagieren? Wie die Hisbollah? Wie die Fatah-Regierung der Palästinenser in Ramallah? Wie die Menschen in der Westbank? Und wie werden die Araber innerhalb Israels reagieren? Wie unsere unmittelbare Nachbarschaft?

Das Österreichische Hospiz ist seit Freitag wieder so leer wie in Coronazeiten. Die letzten Gäste konnten das Land verlassen. Am Samstag gab es einen Drohanruf: „You have ten minutes to evacuate the house, then Hamas will come.“ Scherzaktion oder Trotzaktion? Das weiß man in diesem Land nur im Nachhinein.

Das ist der Text, das Offensichtliche. Nun zum Kon-Text in sechs Punkten:

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1. Die Stimmung kippt: Jeder in Israel weiß: Sobald noch mehr Bilder – und es gibt sie längst! – der Zerstörungen in Gaza und toter palästinensischer Kinder, Frauen und UN-Mitarbeiter die Runde machen, kippt die Stimmung.

In den ersten drei Tagen nach dem Massaker am 7. Oktober stand die Welt unter Schock und die allermeisten Menschen auf der Seite Israels. Doch sobald die Bodenoffensive richtig beginnt, wird die Stimmung kippen: Weltweit werden Menschen die unvermeidbaren Folgen des Terrors sehen und Israel allein dafür verantwortlich machen.

Die Frage wird lauten: Wann ist es genug? Wie viele Menschen müssen sterben, um 1300 abgeschlachtete Israelis jeden Alters zu rächen? Die Frage der Verhältnismäßigkeit wird nicht zugunsten Israels ausgehen.

2. Die Blockade des Gazastreifens. Schlimmer noch: Die Bilder der Bodenoffensive werden dem Antisemitismus weltweit Nahrung geben. Das weiß hier jeder. Auch die Hamas. Vielleicht auch ein Grund, warum Israel so lang mit der Bodenoffensive zögert. Die Hamas hält nicht nur Israelis in Geiselhaft, sondern auch ihre eigene Bevölkerung. Unsicher ist nur, wie hoch der Prozentsatz Pro-Hamas in der Bevölkerung im Gazastreifen wirklich ist.

Die Palästinenser im Land unterstützen auch deshalb die Hamas, weil sie es verstanden hat, den Menschen über sozial-karitatives Engagement zu helfen. Die Hamas als Militärapparat steht für viele Palästinenser an zweiter Stelle.

Wer in der durch die Fatah regierten Westbank unter Präsident Abbas die Hamas unterstützt, tut dies in erster Linie, weil er seine eigene „korrupte Regierung“ loswerden will. Nicht weil er den Terror bevorzugt. Israel blockiert seit Tagen vollständig den Gazastreifen. Kein Strom, keine Nahrung, hier kommt rein gar nichts durch. Was bedeutet das? Gegen diese Blockade wird weltweit demonstriert – auch in Wien. Israel steht jetzt schon am Pranger, während es noch seine Toten zu Grabe trägt. Dabei würde ein einfacher Blick auf die Landkarte reichen: Der Gazastreifen hat auch eine gemeinsame, immerhin elf Kilometer lange Grenze mit Ägypten mit dem Grenzübergang Rafah. Einem muslimischen Bruderland.

Wo sind die Demonstrationen gegen die Regierung in Kairo, die ebenso einen humanitären Korridor in ihre Richtung etablieren könnte? Ich weiß schon, da gibt es bilaterale Vereinbarungen, dass man sich nicht einmischt. Aber soll das ernsthaft die einzige Regel sein, die seit Samstag noch gilt? Das Argument „humanitäre Katastrophe in Gaza“ gilt nicht auch für die Ägypter?

3. Auch die Hamas ist möglicherweise „schockiert“: Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Hamas selbst von ihrem „Erfolg“ am Samstag überrascht ist. Israel hat einen der effektivsten Sicherheitsapparate der Welt. Sicher wollte die Hamas einen kräftigen Schlag erzielen, doch womöglich kein Massaker. Aber jetzt müssen die Hamas-Terroristen alle persönlich mit ihrem Leben dafür einstehen. Das kann nicht beabsichtigt gewesen sein.

4. Zwei-Staaten-Lösung: Oft höre ich: Die Zwei-Staaten-Lösung ist das Ende des Konflikts. Gäbe es einen eigenen Staat Palästina, wäre das nicht passiert. Israel hat sich 2005 aus dem Gazastreifen zurückgezogen. Hier herrscht seit 2007 allein die Hamas. Es gibt eine Grenze. Täglich wurde sie überschritten von Palästinensern, die in Israel Arbeit gefunden hatten. Täglich wurden Hilfsgüter aus Israel in den Gazastreifen gebracht. Hier existieren schon zwei Staatswesen nebeneinander.

Hat der Rückzug der Israelis ihnen Frieden gebracht? Offenkundig: nein. Wie wollen Sie so einen Israeli überzeugen, sich aus der Westbank zurückzuziehen? Wer garantiert, dass dann Ruhe herrscht?

Wenn die Bodenoffensive neuerlich in einen Besatzungszustand mündet, dann, weil es die Hamas „übertrieben“ hat. Das hätte keine noch so rechte Regierung in Israel den eigenen Bürgern schmackhaft machen können.

5. Kon-Text für Linke: Bei aller persönlichen Sympathie für sogenannte linke Positionen: Ihr wisst schon, dass die Hamas kein Verfechter sexueller Selbstbestimmung und Differenzierung ist? Dass homosexuell und divers empfindende Menschen in einem solchen Staat ähnlich behandelt werden würden wie heute bereits im Iran? Es sind am Samstag durch Hamas-Terroristen auch Christen ermordet worden, und einige von diesen Gastarbeiter:innen aus asiatischen Ländern in Israel befinden sich auch unter den 150 Geiseln im Gazastreifen.

Nichts von alledem wird Rechte wie Linke in Österreich, in Europa davon abhalten, sich ihren eigenen Reim darauf zu machen. Genau jenen Reim, der ihnen ins Konzept passt. Einen Reim, in dem Israel keinen Platz haben wird.

6. Die „Rechte“ in Israel: Die rechten Parteien in Israels Regierung sind auffallend still. Auch ihre Unterstützer haben begriffen, dass der Streit innerhalb des Landes, die Massendemonstrationen und die Gegendemos, dem äußeren Feind die innere Schwäche der israelischen Gesellschaft allzu deutlich vor Augen geführt hat. Davor wurde über Monate gewarnt.

Den Scharfmachern unter den israelischen Politikern war das egal; sie haben weiterhin fröhlich ihre religiös-nationalen Umtriebe in der Westbank forciert. Sie haben eine Mitverantwortung, eine entscheidende sogar, für das, was am Samstag passiert ist, und für das, was jetzt passieren wird.

Der Anfang vom Ende

Wir erleben den Anfang vom Ende. Bloß welches Ende? Wissen Sie, seit der Gründung unseres Österreichischen Pilger-Hospizes im Jahr 1863 gab es hier vier verschiedene Staatswesen: das Osmanische Reich, die Briten, die Jordanier und jetzt Israel.

Vier verschiedene Staatswesen seit unserer Gründung. Nirgends steht in Stein gemeißelt, dass Israel ewig bestehen wird. Das wissen auch die Israelis. Und das erklärt Ihnen vielleicht auch die Angst, die hier gerade umgeht.

Was auch immer jetzt passieren wird: Es wird den alten Feinden Israels neuen Auftrieb geben.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

„Die Presse“, Printausgabe 16.10.2023

Der Autor:

Win Schumacher.

Markus Stephan Bugnyár (* 1975), kath. Priester und seit 2004 Rektor des Österreichischen Pilger-Hospizes in Jerusalem. Hat sein Leben dem Heiligen Land und seinen Menschen verschrieben. Zuletzt erschienen: „Als die Sonne aufging. Mit Jesus unterwegs zum Leben“, Vorwort von Kardinal Schönborn (2018).

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