Kurzweil im Schlitzer-Gewand

Neu im Kino. In Hannibal Rising beeindruckt nur Hauptdarsteller Gaspard Ulliel.

Wenn in den ersten Minuten Wildschweine durch einen tiefgrünen Wald rennen, fühlt man sich an Thomas Harris' Wälzer „Hannibal“ erinnert, in dem der entstellte Multimillionär Mason Verger unliebsame Mitmenschen zwecks sadistischer Freuden an ebensolche Tiere verfüttert. Tatsächlich bemüht sich der Bestsellerautor um inhaltliche Kohärenz, wenn er in „Hannibal Rising“ die Genese auch eines der berühmtesten Leinwandmonstren der jüngeren Filmgeschichte skizziert, was vulgärpsychologische Ausführungen meint, die den späteren Psychopathen erklären sollen.

Vom Krieg ins Trauma

Die undankbare Aufgabe, das inhaltsleere, eklektische Buch in einen mutmaßlichen Blockbuster umzumünzen, fiel dem Ästheten Peter Webber zu, der Produzent Dino De Laurentiis mit seiner schöngeistigen Annäherung an den niederländischen Maler Vermeer Das Mädchen mit dem Perlenohrring überzeugen konnte. Der fantastische Realismus des Beginns erstaunt darob nicht mehr: Die reiche litauische Familie Lecter flüchtet 1944 vor der immer weiter gen Westen rückenden Front zwischen Deutschen und Russen in ihre Waldhütte. Schon nach kurzer Zeit sind die Eltern tot, die Kinder Hannibal und Mischa in die Hände seelenloser Söldner gefallen – jenes Trauma wird Untergrund für die Psychopathologien des Buben werden.

Nach dessen späterer Fluchtbewegung in Richtung Frankreich wächst er bei der japanischen Witwe seines Onkels, Lady Murasaki (dekorativ: Gong Li), auf, in deren ausladendem Landhaus er zum ersten Mal in Kontakt mit fernöstlichen Wertkonzepten kommt, die zur legitimierenden Unterlage für seine Rache werden.

Der Anstrich eines europäisch geprägten Kunstkinos blättert durch die holprig zusammengeschusterten Versatzstücke ab: Die Bestialität der Weltkriegsjahre fundiert Lecters Kannibalismus, die humanistische Unterrichtung errichtet seinen monströsen Intellekt, Konversationen mit Lady Murasaki erweitern den Gedächtnispalast, sein Studium der Medizin befähigt ihn zum präzisen Zerschneiden menschlicher Körper. Hannibal, der Kannibale, jene populärkulturelle Ikone, welche in Jonathan Demmes maßgeblichem Psychothriller Das Schweigen der Lämmer begründet wurde, ist zu einem Bastelsatz geworden.

Vom Thriller zum Schund

Im Franzosen Gaspard Ulliel wurde jedenfalls ein Schauspieler gefunden, der Anthony Hopkins' gewaltige Interpretation Hannibals reflektieren oder eher formen muss, und dies mit Leichtigkeit erreicht: seine Mimikry ist sehenswert, sein Talent beachtlich. Harris' Bemühen, seiner abgründigen Biografie „Hannibal“ einen Prolog voranzustellen, scheitert, während der Film den Übergang vom psychologischen Thriller zum Schund besser überbrückt.

Webber arbeitet mit Kontrasten, lässt das gleißende Weiß des Schnees von der drückenden Schwärze der Bäume durchbrechen, rahmt den Inhalt als mythologische Erzählung inklusive kräftiger Bilder: Ein blutroter Mund, Federn kleben an den Lippen. Hannibal Rising ist als Film annehmbare Kurzweil im Schlitzer-Gewand, doch bleibt zu hoffen, dass dies der letzte Nagel im Sarg dieses Filmmonsters gewesen ist.

Inline Flex[Faktbox] LECTER:Bösester aller Bösen("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.02.2007)

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