Das Jubiläumsjahr des Konsens

60. Filmfestspiele Cannes. Rumänischer Sieg, allgemeine Zufriedenheit im soliden, schon überschätzten Jahrgang.

Als einer der ersten Filme ging er ins Rennen, wurde gefeiert und galt stets zumindest als Mitfavorit: An der Croisette war der Sieg des zuvor kaum bekannten Rumänen Cristian Mungiu für seinen zweiten Spielfilm 4 luni, 3 saptamini si 2 zile (4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage) keine wirkliche Überraschung.

Bezeichnend ist der Triumph des 39-Jährigen in zweierlei Hinsicht: Sein Film, angesiedelt in einer rumänischen Kleinstadt in den letzten Jahren des kommunistischen Regimes, war eine der wenigen materialistisch angelegten Arbeiten im Wettbewerb, er fügt sich in eine Sieger-Tradition, die zuletzt etwa den belgischen Brüdern Dardenne für Rosetta und L'enfant zwei Palmen eintrug.

Zu den Stärken von Mungius Film zählt die anfängliche, detailreiche Schilderung von Tauschhandel-Alltag im späten Ceausescu-Regime: Alles ist Verhandlungssache. Das gilt für den Studentenheim-Schwarzmarkt mit West-Marken von „Kent“-Zigaretten bis zu „Tic-Tac“-Bonbons, ebenso wie für Hotel-Rezeptionen, wo die studentische Protagonistin in langen Wortgefechten ein Zimmer organisieren muss, um ihrer Freundin eine illegale Abtreibung zu ermöglichen.

Sieger mit Schrecken: Finsternis, Fötus

Die Umstände dieser Operation sind erniedrigend und beklemmend. Anders als die Dardennes interessiert Mungiu die ethische Problematik kaum, eher die bedrückende Atmosphäre: Im Verlauf des Films wird so der naturalistisch anmutende Handkamera-Stil öfters zu Schreckens-Momenten überspitzt. Ein betont beklemmendes Tisch-Tableau zeigt die auf einer Geburtstagsfeier gefangene Studentin hilflos im Zentrum der Gesellschaft, anderswo verliert sich die Kamera in dräuender Finsternis oder zeigt doch noch den abgetriebenen Fötus, der zuvor extra außerhalb des Bildes blieb.

Die Kamera führt Oleg Mutu, der auch Cristi Puius unforciertes Vérité-Meisterwerk Der Tod des Herrn Lazarescu fotografierte – den gefeierten Film, der 2005 einen anhaltenden Boom ums rumänische Kino auslöste. Das ist der zweite Aspekt, unter dem Mungius Sieg aussagekräftig wirkt: Seine Wettbewerbsteilnahme schien nicht zuletzt wie eine Entschuldigung für die damals heftig kritisierte Platzierung von Puius überlegenem Film im Zweit-Bewerb von Cannes, „Un Certain Regard“. Den gewann heuer auch ein Rumäne: Der 2006 tragisch im Alter von 27 Jahren bei einem Autounfall verstorbene Cristian Nemescu für das posthum vollendete Epos California Dreamin'.

Als erster Film einer ironisch betitelten Reihe von „Sechs Geschichten aus der Goldenen Zeit“ folgt Mungius 4 Monate einer weiteren Idee Puius: Der kündigte Lazarescuals erste von „Sechs Geschichten aus Bukarest“ an. In einer Festivallandschaft, in der Weltvertriebe immer mächtiger werden, ist das Befolgen eines kalkulierbaren Konzepts wohl ein Vorteil, zusammen mit dem Rumänien-Hype macht das Mungiu zum idealen Konsens-Sieger im soliden Konsens-Jahr.

Ist Rumänien der neue Iran?

Tatsächlich müsste man sich angesichts der Ergebnisse dieses bereits zu bejubelten Jubiläums-Jahrgangs fast sarkastisch fragen: Ist Rumänien – was das Kino betrifft – der neue Iran? Vor einer Dekade waren persische Filme der Festival-Renner, die Goldene Palme 1997 für Abbas Kiarostamis Der Geschmack der Kirschestärkte das Interesse. Heuer gab es ein offizielles Protestschreiben aus dem Iran, unterfüttert vom Fakt, dass kein iranischer Film lief: Man beschwerte sich wegen des Animationsfilms Persepolis, einer Adaption der autobiografischen Comic-Bücher von Marjane Satrapi über ihr Aufwachsen im Iran nach der islamischen Revolution und Europa (auch in Wien).

Die hübsch stilisierten Schwarzweiß-Bilder von Persepolis bieten aber nur von Gemeinplätzen gemilderte Totalitarismus-Kritik: Satrapis Film war auch eine typische Konsens-Konstante dieser Cannes-Edition, erhielt entsprechend einen Preis der Jury, die unter der Leitung von Stephen Frears erstaunlich mutlos entschied. US-Künstler Julian Schnabel erhielt den Regiepreis, wohl weil er das konventionell-privilegierte französische Lähmungsdrama Le scaphandre et le papillon eine halbe Stunde lang aus Sicht der Hauptfigur zeigt, Fatih Akin bekam ausgerechnet den Drehbuchpreis für seine deutsch-türkische Tragödie Auf der anderen Seite, dabei war gerade das arg (doch modisch) konstruierte Skript ein Problem, bot aber viele Schlagworte wie „EU-Beitritt“.

Trend: Glaube als Trauerarbeit

Kein Wunder, dass das packend konfrontative Kino des Österreichers Ulrich Seidl leer ausging, statt den kontroversen Geriatrie-Bildern aus Lainz bevorzugte man eine fast aufdringlich filigrane Studie zu Demenz und Leid: Die mit Naturmystik beruhigende Trauerarbeit Mogari no mori von Naomi Kawase aus Japan. Zwei mutige Filme kamen immerhin zu Preisen: Gus Van Sants formalistisch avancierter Teenagerfilm Paranoid Park, und vor allem Secret Sunshine vom Koreaner Lee Chang-dong, eine reich wuchernde Erzählung über den durch Kindsverlust plötzlich zerrissenen Alltag einer Witwe, der seiner superben Aktrice Jeon Do-yeon den verdienten Darstellerpreis eintrug. Wie Seidls Import Export (wo eben viel erzählt wird, was Akin bloß behauptet) war Lees Film einer der wenigen Wettbewerbsbeiträge in Direktkontakt mit der wirklichen Welt.

Als Auseinandersetzung mit zweifelhaften Versprechungen organisierter Religion passte Lees Film zum Trend: Glaube als Trauerarbeit, weltweit. Ob unter New Yorks Polizisten (in James Grays We Own the Night) oder Mexikos Mennoniten (in Stellet Licht von Carlos Reygadas). Nur für Quentin Tarantino ist offensichtlich noch immer Kino die Religion, wie der Meta-Actionfilm Death Proof rührend belegte. Ob Cannes' Grand Théâtre Lumière im akzeptablen Jubiläumsjahr wirklich ein Tempel entsprechender Verheißungen war, daran darf gezweifelt werden: Gegenüber seiner organisierten Religion besonders Misstrauische mochten fast vermuten, dass sein 59. Jahr bewusst so enttäuschend gewesen war, um heuer allgemeine Zufriedenheit zu sichern. Das funktionierte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.05.2007)

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