"Le petit lieutenant": Ich lebte Monate unter Polizisten

'Sich ansehen, wie Polizeiarbeit wirklich abläuft.' Nüchterner Blick auf die Routine: Jalil Lespert (Bildmitte) als 'Le petit lieutnant'.
'Sich ansehen, wie Polizeiarbeit wirklich abläuft.' Nüchterner Blick auf die Routine: Jalil Lespert (Bildmitte) als 'Le petit lieutnant'.(c) Filmladen
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Mozarts Leber, kiffende Polizisten, enttäuschte Leben: Xavier Beauvois über seinen großartigen, lebensnahen Polizeifilm "Le petit lieutenant". Ab Freitag.

Es hätte die Filmszene zum Mozartjahr sein können: Der Titelheld von Xavier Beauvois' großartigem Polizeifilm Le petit lieutenant, ein zur Pariser Mordkomission versetzter Polizeischulabgänger, erzählt beim Heimaturlaub in Le Havre seinem Vater von einer Autopsie. „Alles lag am Tisch: die Leber, die Lunge, das Herz. Wie in der Auslage einer Fleischerei. Es mag blöd klingen, aber ich dachte an Mozart. Ich fragte mich: Wie können solche Sachen diese Musik komponieren?“

Der 2005 auf internationalen Filmfestivals gefeierte Film hat hierzulande das Mozartjahr versäumt, der verspätete Start kann seiner schmucklosen Schönheit nichts anhaben, auch wenn der deutsche Titel Eine fatale Entscheidung eine Genre-Handlung betont, die am Wesen des Werks vorbeigeht. Beauvois' Blick auf die Details der Polizeiarbeit ist ganz nüchtern, wie dokumentarisch. Und hinter der naturalistischen Oberfläche steckt existenzielle Tragik. Ein wenig wie bei der Autopsie: Beauvois zeigt einem den Alltag fast so beiläufig wie der Fleischer Leber, Lunge und Herz – aber näher besehen, brandet dahinter die Verzweiflung ganzer Leben hoch, wogend wie eine Mozart-Sinfonie.

Filmplakate in Polizeistation

Beauvois, Regisseur und Schauspieler (in Le petit lieutenant hat er eine Nebenrolle als Polizist) gilt als schwierig und narzisstisch, ist im Interview aber freundlich – und bescheiden, gerade was seine Arbeit angeht. „Ausgangspunkt war eine bescheidene Idee: Sehen, wie Polizeiarbeit wirklich abläuft. Ich habe Monate unter Polizisten gelebt, das war meine Inspiration, nicht andere Filme.“ Warum ist dann die Polizeistation des kleinen Leutnants (Jalil Lespert) voller Filmplakate – Saving Private Ryan, der Cop-Thriller Seven, Jean-Pierre Melvilles Policier Un flic?„Alle echt! Die hängen in der Station, wo ich recherchierte, ich borgte sie für den Dreh.“

Auch die Rückwirkung des Kinos aufs Leben nimmt Beauvois demütig hin, erlaubt sich sogar kleine Ironien: Seine Star-Aktrice Nathalie Baye fügt sich als Ex-Alkoholikern zwar umstandslos ins exzellente Ensemble, das eben agiert, als würde es nicht schauspielern, die Kollegen stellen sie jedoch als „Madame Superflic“ vor. Auch das passt in den unprätentiösen Reportagestil des Films, selbst die gewitztesten Szenen müssen nichts für eine Handlung beweisen, wirken so lebensecht: Einmal stehen Bayes Vorgesetzte und Lesperts Leutnant am Seine-Ufer und kiffen (Beschlagnahmtes). Ein Passant mit Hund geht vorbei, kommt zurück, fragt: Darf ich ziehen? Dann warnt er: Aufpassen, in der Gegend wimmelt es vor Polizisten!

Der Humor ist Beauvois wichtig: „Anders hält man den Job nicht aus, das gilt genauso für die Mediziner bei den Autopsien, auch da habe ich viel Zeit verbracht. Wichtig ist mir, dass man den Menschen versteht, der am Abend aus dieser Arbeit kommt.“

Daher der unvoreingenommene Blick, die Betonung von Feierabend und Stillstand, der Verzicht auf modische Schnörkel: „Moden interessieren mich nicht – alles, was in Mode ist, kommt wieder aus der Mode. Aber ich will einen Film, der in 20 Jahren auch noch Bestand hat. Viele junge Filmemacher tappen heute in die Bilderfalle, verschreiben sich einer Ästhetik du jour. Ein Kritiker hat unlängst sehr richtig gesagt, die sollten keine Bilder machen, sondern Einstellungen. Denken Sie an Melvilles Filme, Le cercle rouge: Einstellung für Einstellung – zeitlos!“ – Bei Melville ist das Genre Basis für geradezu rituelle existenzielle Tragödien, auch Beauvois' bemerkenswert neurotischer Naturalismus liefert eine Vision der Vergänglichkeit. Etwa die Laien im Film: Stockende Ermittlungen in einem Ostmafia-Mord führen unter Sandler, unglaubliche Typen, vom Leben gezeichnet. „20 Jahre auf der Straße, der Gewalt ausgesetzt, so sehen die zahnlosen Gesichter auch aus! Das kann man nicht mit Schauspieler und Maske nachstellen, das finde ich auch ethisch nicht vertretbar.“

„Frankreichs Filmszene: mafiös!“

Beauvois, ein Moralist? Der Film wirkt nicht so: Bayes Figur rückt schließlich ins Zentrum, auch ihr Gesicht erzählt, fast ohne Worte, eine Geschichte. Am Ende, trostlos und berührend, liegt in ihrem Schmerz auch menschliche Größe: Das trägt eher die Handschrift eines Existenzialisten. Beauvois nickt: „Frankreichs Filmbranche ist eine mafiöse Szene, man muss lügen und betrügen, um Kino zu machen. Meinen Produzenten gaukelte ich vor, einen ganz normalen Polizeifilm drehen, es gab auch viel kommerzielle Drehbuchfassungen. Aber heimlich ließ ich einfließen, was mich wirklich interessiert, so habe ich doch meinenFilm gemacht: über das Alter, über Einsamkeit und über die Enttäuschung im Leben.“

ZUR PERSON

Xavier Beauvois, geb. 1967 in Bruay-en-Artois, debütierte 1991 mit dem preisgekrönten Familiendrama „Nord“, sein zweiter Film „Vergiss nicht, dass du sterben musst“ erhielt 1995 den Jurypreis in Cannes. „Le petit lieutenant“ ist seine vierte Regiearbeit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.08.2007)

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