Filmfestspiele Venedig: Blicke in den Abgrund

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Erster Höhepunkt: der erotische Politkrimi „Lust, Caution“.

Kann es gut gehen, wenn der Eröffnungsfilm schon im Titel bloß Buße verspricht? Joe Wrights Historienmelodram Atonement mag dem Papier nach wie ein ideales Prestigeobjekt ausgesehen haben: Der Regisseur der Jane-Austen-Verfilmung Pride & Prejudice arbeitete wieder mit seiner hübschen Hauptdarstellerin Keira Knightley, die bei der Premierenpassage über den roten Teppich gute Figur machen durfte, flankiert von der großen alten Dame Vanessa Redgrave. Literarische Respektabilität sollte sich diesmal der erfolgreichen Romanvorlage von Ian McEwan verdanken.

Aber Atonement ist emotional tot. Die Geschichte böte großes altmodisches Drama: Am Vorabend des II.Weltkriegs zerstören die unüberlegten Worte eines Mädchens das Leben eines Mannes (und die leidenschaftliche Liebe ihrer Schwester). Mit dem Krieg kommen Chancen auf Bewährung und Buße, aber bei der selbstverliebten Inszenierung büßt nur der Zuseher: „Literarisch“ heißt hier eingangs endloses Schreibmaschinengeklapper, das sorgt für angemessen kunstgewerbliche Einstimmung, zumal Wright immer tiefer in die Trickkiste greift, ohne zu vertiefen: Häufige Szenenwiederholungen aus verschiedenen Perspektiven dienen nur der Eitelkeit, nicht der Einsicht.

Liebespaar zur Bildbehübschung

Am Höhepunkt fährt die Kamera in einer minutenlangen Einstellung durchs Chaos der britischen Evakuation in Dünkirchen und Hunderte Statisten, dabei wird schmerzlich klar, dass es Wright nur um den technischen Gewaltakt geht – und herzlich wenig um Dünkirchen, den Krieg oder gar sein tragisches Liebespaar. Als einmal ein paar Sekunden echter alter Wochenschauaufnahmen zu sehen sind, ist das der einzige Schock in zwei Stunden: Sie wirken so unglaublich lebendig.

Das Gegenteil ist der Fall im ersten Höhepunkt des Wettbewerbs: Der gebürtige Taiwaner Ang Lee hat nach seinem US-Oscarerfolg Brokeback Mountain wieder in Asien inszeniert, einen epischen Thriller im japanisch besetzten Shanghai, 1941. Lust, Caution erzählt ebenfalls von Leidenschaft und vom Krieg, basiert ebenfalls auf großer Literatur, dauert sogar 156 Minuten – aber jede Einstellung ist essenziell. Wegen seiner Sexszenen hat der Film schon vor dem Start (hierzulande: Ende Oktober) in den USA für Aufsehen gesorgt. Was in die Irre führt: Lee, einer der letzten großen Klassizisten des Gegenwartskinos, interessiert die Erotik nicht als Selbstzweck, sondern in ihrer Verschränkung mit der Politik – und beide als Instrument von Macht und Verstellung.

Das Animalische im Menschen

Der schöne Asienstar Tony Leung spielt einen übervorsichtigen Regierungsbeamten, den eine junge Widerstandskämpferin (Tang Wei) verführen soll, um ein Attentat zu ermöglichen. Beide verfangen sich fatal in der Beziehung. Lee inszeniert den Stoff episch, im Hintergrund entwirft er ein detailliertes Porträt vom Leben in der Okkupation: Die ganze erste Hälfte erweist sich als fehlgeleitetes Manöver, aber sie etabliert exakt die Themen und Bilder, deren Variation der zweiten Hälfte eine gewaltige tragische Fallhöhe verleihen – buchstäblich im Bild eines Abgrunds, das sich knapp vor Schluss endgültig auftut. Ein in seiner Präzision erschütternder Film über das Animalische im Menschen.

So etwas schwebte wohl auch Kenneth Branagh bei der Neuverfilmung des Zwei-Personen-Kammerspiels Sleuth vor: Aber das Drehbuch von Nobelpreisträger Harold Pinter reduziert das Material zur bloßen Versuchsanordnung; statt der raffinierten Ironie, ambivalenten Psychologie und amüsierten Krimi-Selbstreflexion des Originals von Altmeister Jospeh L. Mankiewicz (auf Deutsch: Mord mit kleinen Fehlern, 1972) gibt es nur durchsichtige Machtkämpfe. Branagh inszeniert immerhin entsprechend geheimnislos, im Regietheaterdekor einer grauen, grauenvollen „modernen“ Designerwohnung. Jude Law liefert dazu gleich eine Designer-Charge; nur Michael Caine – der im Original in Laws Rolle gefiel – spielt souverän: bloß, dass sein müder Alterspart diesmal den Aufwand kaum zu lohnen scheint. Rückschritt statt Fortschritt: Das ist bislang der Beitrag der gesteigerten US-britischen Präsenz in Cannes.

GESCHICHTE

1932 unter Mussolini gegründet, rittern heuer beim Filmfest Venedig 22 Filme plus Überraschungsfilm um den Goldenen Löwen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2007)

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