Stillleben mit Schutt und Schlägern

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Neu im Kino. In „Still Life“, dem Venedig-Sieger von 2006, entwirft Jia Zhang-ke ein monumentales, modernes Porträt von China im Umbruch. Ab Freitag im Stadtkino.

Dritte Staustufe, 156,5 Meter. Auf Gebäuden werden Marken angebracht: So hoch steigt die Flut in der nächsten Stufe des riesigen, umstrittenen Drei-Schluchten-Damm-Projekts Chinas. Die Durchsage bei einer Fährenrundfahrt in Jia Zhang-kes außerordentlichem Film nennt den Zeitpunkt: Mai 2006. Jias Still Life, davor gedreht, erst danach gezeigt, ist zuallererst Dokument, hält fest, was unter Wasser verschwunden ist: gewaltige Landschaften der Zerstörung, durch die Körper treiben, als wäre die Flut schon da.

Doch noch erinnern diese Menschenkörper an den Lebensraum, der war, gefüllt mit Geschichten, die seither weggespült sind, mit Erinnerungen an für den kontroversen Fortschritt umgesiedelte Existenzen. Die Wege der Körper führen durch milchiges Tageslicht, vorbei an Schuttbergen und den angespannten nackten Oberkörpern allgegenwärtiger Arbeiter, die letzte Infrastrukturreste in den Boden hämmern, vorbei an unheimlichen Desinfektionsteams. Die vom Virtuosen Yu Likwai präzis geführte Digitalkamera tastet die zerfallen(d)en Landschaften in langsamen Schwenks ab. Eine moderne Antwort auf traditionelle Rollbilder, doch statt deren prächtiger Natur: monumentale Stillleben eines urbanen Untergangs.

Ein Haus hebt ab und fliegt

Diese Landschaften des Umbruchs sind die wahre Handlung des Films, und die Seelenlandschaften der Menschen, die im Umbruch leben: Zur Zuspitzung des Themas schleichen Ahnungen von ein, zwei Erzählungen aneinander vorbei. Achronologisch, aus am Rand aufgeschnappten Details und unerwarteten Bezüge zeichnet sich ab, was im Erzählkino die Geschichte wäre. Jia inszeniert als Mann der Moderne, ein wenig wie Michelangelo Antonioni: Das Einzugsgebiet des Drei-Schluchten-Damms ist als Schauplatz eines Entfremdungsabenteuers Entsprechung der löchrigen Vulkaninsel des Verschwindens in Antonionis L'avventura.

Die erste Hälfte von Still Life durchquert ein Mann namens Han Sanming (gespielt von Jias Stammschauspieler Han Sanming: Trennung von Fakt und Fiktion wird ständig produktiv unterwandert), von fernen Kohleminen aufgebrochen, um die gekaufte Frau zu finden, die ihn vor 16 Jahren verließ. Später durchsucht eine Krankenschwester (Jias Muse Zhao Tao) die Stadt Fengjie – oder was davon übrig ist – nach ihrem Ehepartner.

Die Wege der zwei Hauptfiguren in der Landschaft kreuzen sich nie direkt, doch ihre Verbindungen suggerieren die Zukunft: Ein kleiner Junge, der rauchend, singend, an den Rändern des Films herumstrolcht – und ein UFO aus dem Nichts, das beide beobachten. Jia entzieht sich mit solchen verblüffenden Visionen dem Status als bloßer Sozialrealist, oft erwächst das Unglaubliche direkt der surrealen Gegenwart. Ein Haus hebt ab wie eine Rakete: letztlich kaum fantastischer als der mit perfektem Timing eingefangene Zusammenbruch eines riesigen Gebäudes im Bildhintergrund nach einer Aussprache, oder jener strahlende Effekt, als die Beleuchtung einer großen Brücke auf Geheiß eines Funktionärs die Nacht erhellt.

Gute Menschen von den Drei Schluchten

Motivisch ist Still Life der reichste Film des einfallsreichsten Gegenwartsregisseurs Chinas, anders als in Jias brillant ausgeführtem, aber auch etwas ausgedachten Vorgängerfilm, der Globalisierungsparabel The World mit ihrem überdeutlichen Miniaturwahrzeichen-Themenpark, wirkt der Reichtum hart erkämpft. So findet die beleuchtete Brücke, Symbol offizieller Verheißungen, eine Entsprechung am Ende, im Bild eines Drahtseilkünstlers in Balance zwischen zum Einsturz bestimmten Gebäuden. Jia schildert Chinas Gegenwart als selbstmörderischen Drahtseilakt zwischen einer dem Versinken überantworteten Geschichte und einer ungewissen Zukunft. Etwas Hoffnung bleibt, doch ironisch getönt: Der Originaltitel Sanxia haoren heißt (mit Brecht) in etwa „Die guten Menschen von den Drei Schluchten“.

Freilich: Jia zeigt, wie Schläger (mit Chow Yun-fat in John Woos Actionfilmen als Idol) in Beamtenauftrag zu langsame Menschen aus Gebäuden vertreiben. Gemäß der vier Kapitelüberschriften des Films („Wein“, „Zigaretten“, „Tee“, „Süßigkeiten“) haben Genussmittel die vier üblichen Haushaltsgüter Chinas ersetzt. Geld ist allgegenwärtig, seine Bedeutung schier unheimlich: Ihr Abbild auf Geldscheinen prägt die Wirklichkeit.

Als kritisches Porträt der Heimat ist Jias Film selbst ein Drahsteilakt: Angeblich lief er aus Angst vor Chinas Zensoren 2006 als Überraschungsfilm im Wettbewerb von Venedig. Der überraschende Gewinn des Goldenen Löwen machte Ex-Undergroundfilmer Jia dann zum Kulturhelden, der Film wurde ungeschnitten freigegeben: gut genug für die guten Menschen vom Politbüro.

ZUR PERSON

Jia Zhang-ke (*1970, Fenyang) etablierte sich mit unabhängigen Filmen wie „Platform“ (2000) als Meisterregisseur Chinas, 2004 war „The World“ sein erstes offiziell genehmigtes Werk. „Still Life“ (2006) ist Jias fünfte Fiktion.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2007)

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