Ulrich Seidl: Wodka mit dem Chefarzt

(c) Julia Stix
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Sein außerordentlicher Film „Import Export“ entwirft ein schonungsloses Bild des heutigen Europa. Mit dem „schaufenster“ sprach Ulrich Seidl über die schwierige Entstehung und den gemütlichen Wohnzimmercharakter ukrainischer Krankenhäuser.

Mit seinem ersten offiziellen Spielfilm Hundstage lieferte der umstrittene heimische Dokumentarist Ulrich Seidl 2001 eine tragikomische Bestandsaufnahme Österreichs zum Millennium – und einen heimischen Instant-Klassiker. Sein großer neuer Film Import Export, heuer im Wettbewerb von Cannes vorgestellt, beschreibt nun mustergültig Europa im für Seidl charakteristischen Wechselspiel aus Realsatire und Tragödie. Parallel geführt werden darin zwei Geschichten: Die ukrainische Krankenschwester Olga (Ekateryna Rak) hofft im Westen auf eine bessere Existenz; nach mehreren Anläufen, etwa bei Netz-Pornos, endet sie als Putzfrau in der Lainzer Geriatrie. Währenddessen verschlägt es den arbeitslos gewordenen Wiener Wachbeamten Pauli (Paul Hofmann) nach Osten, bis in die Ukraine. Wie stets bei Seidl entstand der Film nach jahrelanger Vorbereitung, um geeignete (Laien-)Schauspieler und Schauplätze für seine Vision zu finden.

„Import Export“ ist Ihr bislang aufwendigster Film.

Ja, und derjenige mit dem meisten Druck. Ich habe erstmals selber produziert und wusste: Viele warten nur darauf, dass ich auf die Nase falle. Es war ja mein zweiter Spielfilm nach „Hundstage“, und wie es so schön heißt: Erst beim zweiten Film beweist sich, ob man was kann. „Hundstage“ hätte ja auch nur ein Glücksfall sein können. Auch davor hatte es ja geheißen: Deine Methoden sind nicht auf den Spielfilm übertragbar und du wirst scheitern. Und bei meiner jahrelangen Produktionsmethode zweifle ich immer wieder an mir selbst und verzweifle an den Dingen: Ich weiß nie, was dabei rauskommt.

Ihre Methode beginnt meist bei realen Vorbildern.

Für die Figur des Pauli war das der 17-jährige Sohn einer siebenköpfigen Wiener Familie, die Eltern und erwachsenen Kinder alle arbeitslos. Zentrum ihres Aufenthalts war das Donauzentrum, wo sie sich herumtrieben, immer mit dem Handy telefonierend. Aber ich wollte keinen Film nur über das Thema machen – so wie es mir damals bei „Good News“ schon zu wenig gewesen wäre, nur Kolporteure zum Thema zu machen.

Deshalb die Parallelhandlung in der Ukraine?

Der Osten hatte sich schon angebahnt: Ich reiste viel dorthin, die Menschen und ihre Mentalität sagen mir sehr zu, die Gastlichkeit und Gastfreundlichkeit. Es gibt dort vieles, woran man verzweifelt und vieles, was man liebt. Ich schrieb ursprünglich sieben Geschichten mit Veronika Franz, wir reduzierten auf zwei: der junge Mann und die junge Frau. Ursprünglich war Rumänien als Schauplatz geplant.

Dort hat ja Cristian Mungiu für Sie gearbeitet, dessen Film dann den Cannes-Wettbewerb gewann, in dem auch „Import Export“ lief!

Das war später. Eigentlich war für Pauli ein anderes Ende vorgesehen: Er sollte bei der Arbeitssuche durch Zufall in einem Porno-Casting landen, und sein Geld mit Sex verdienen. Da hätte sich ein Kreis geschlossen: Er endet „pornografisch“, so wie Olga beginnt. Dieser Dreh war für zuletzt vorgesehen, auch weil das in der Ukraine nicht zu drehen war: Dort ist Pornografie verboten. Es gibt sie natürlich, aber ich hätte mich für mafiöse Leute erpressbar gemacht. Also fiel die Wahl auf Rumänien, Mungius Firma machte das Casting für eine Pornostudio-Szene. Aber da hatte ich im Schnitt schon genug Material gesehen, um zu wissen: Das Ganze würde dem Film nichts mehr hinzufügen.

Beim Ukraine-Dreh herrschten wohl extreme Bedingungen. Man spürt die Kälte ...

Die Ukraine wählte ich letztlich wegen der krassen Unterschiede und des historischen Bezugs zu Österreich. Und wegen der Dimensionen: Da gibt es kilometerlange Stahlwerke, sowas habe ich noch nie gesehen. Die Gegend, wo Olga herkommt, war in der Sowjetunion noch eine Wohlstandsregion – Kohle und Stahl. Und alte Kulturpaläste, an denen man noch ein bisschen sah, wie es im Sowjetreich war. Heute sind alle Plattenbauten Ruinen, durch die schwere Eisentür geht’s in ein finsteres Loch, wo alles bröckelt: Dunkelheit und Müll, keine Fenster, der Aufzug kaputt. Wasser gibt es nur manchmal. Die Leute beheizen eine kleine Küche mit dem Gasherd, sonst sitzt man in Mantel und Haube, sogar in den Cafés.

Später hält Pauli am Weg in die Ukraine bei der berüchtigten slowakischen Roma-Siedlung Lunik IX.

Bei wiederholten Fahrten in die Ukraine und zurück hab‘ ich mich natürlich nach Drehschauplätzen umgesehen. Und eines Tages stand ich in diesem Lunik IX und mir passierte Ähnliches, was ich im Film zeige: Man bot mir Mädchen an, zum Kaufen, zum Mitnehmen. Dort gibt es ja 99 Prozent Arbeitslosigkeit: Wenn das Wetter nicht gar zu kalt ist, stehen die Menschen heraußen vor der Ruine, die sind ja gesellig, und die Kinder laufen herum und zünden Autoreifen an.

In Wien ...

Da tu‘ ich mir schwer, noch zu drehen, schon seit Längerem: Es gibt nichts mehr, was mich reizt, auch weil Wien leider immer mehr wie andere europäische Städte aussieht, immer einheitlicher – und Vereinheitlichung interessiert mich am wenigsten.

Der Dreh in der Lainzer Geriatrie war aber wohl eine Herausforderung, schon wegen der Bürokratie.

Ich ging zur Stadträtin, es hieß: kein Problem. Und ein paar Tage später kam eine Genehmigung, die keine war – Drehzeit: anderthalb Tage, zehn Punkte, was nicht sein darf. Undenkbar für meine Vorstellungen! Wir machten also selber Überzeugungsarbeit, Veronika und ich: Klarstellen, dass es nicht darum geht, Ärzte und Pfleger zu vernadern, sondern zu zeigen, was das bedeutet für alte Menschen, in der Geriatrie zu sein. Immer wieder dieser Vorwand: Das kann man den Patienten nicht zumuten, der Alltag wird gestört. Aber letztlich war es wie erwartet: Wir waren eine willkommene Abwechslung für viele Patienten, auch weil wir mit den Leuten redeten, neugierig waren. Ich kannte auch die Biografien aller Menschen, es gab ein Dossier zu jeder Person, auch wie sie redet, sich verhält. Für die war das sehr viel: Die eigentliche Katastrophe ist ja keine unzureichende Pflege, sondern der Mangel an menschlichem Kontakt und seelischen Zuspruch. 80 Prozent haben keine Besucher, und manche liegen seit Jahren dort. Das ist ein gesellschaftliches Problem, das Tabu über Sterben und Tod: Man will das nicht sehen.

Es ist ein Geniestreich des Films, wie die Geriatrie an Symbolkraft gewinnt, ohne schwerfällig als Metapher gebraucht zu werden: Der Reichtum des Westens führt zu dieser Überalterung, mit der kann man aber nicht umgehen.

Ekateryna hat so etwas zum ersten Mal in ihrem Leben gesehen, die war ganz fertig. Drüben gibt es das nicht, die Spitäler schauen ganz anders aus, die Leute sind mehr oder weniger in der Obhut ihrer Verwandten, die müssen selber das Bettzeug mitbringen und sich verpflegen. Das hat fast Wohnzimmercharakter, eigentlich gemütlich irgendwie. Andererseits ist man natürlich medizinisch 70 Jahre hinten: Die Geräte verrostet, Computer gibt es sowieso keine, aber die gab es früher ja auch nicht. Dafür gibt es eine Menschlichkeit: Du kommst zum Chefarzt rein, dann raucht man und trinkt Kaffee – oder Wodka, je nachdem. Ich hab ihn gefragt, ob wir was filmen könnten, sagt er: In einer Stunde hab ich eh Operation, da können Sie gerne mitkommen. Als ich meinte, in einer Stunde wäre das Team noch nicht fertig, sagte er: Warten wir halt noch eine Stunde, kein Problem! Und schon waren wir dort und haben die Operation gefilmt.

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