"Kurz davor ist es passiert": Horrorgeschichten im Alltag

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Ab Freitag im Gartenbau: „Kurz davor ist es passiert“, Anja Salomonowitz' unheimlicher Film vom ganz normalen Frauenhandel.

Für billige Betroffenheit ist in diesem unheimlichen Film kein Platz: Ihm fehlen sogar die Betroffenen. Deren Geschichten werden stattdessen von Mittelstandsbürgern erzählt, in ihrer (mehr oder weniger) ganz normalen Umgebung. Die bei aller Selbstverständlichkeit der Sprechenden bald nichts Natürliches mehr hat: Das ist nur die erste Verstörung dieses faszinierenden Films.

Die junge talentierte heimische Regisseurin Anja Salomonowitz, zuletzt durch den unkonventionellen Zeitzeugenfilm Das wirst du nie verstehen aufgefallen, legt mit Kurz davor ist es passiert eine der ungewöhnlicheren Produktionen vor, die je in Kollaboration mit einem humanitären Verein entstanden. In diesem Fall die Migrantinnen-Organisation LEFÖ: Aus Interviews derer Mitarbeiter sind die Monologe konstruiert worden, die Salomonowitz von fünf Laien erzählen lässt.

Aus dem Taxler beginnt es zu sprechen

Aus dem Zöllner, der Konsulin, dem Taxler, der Nachbarin und dem Bordellkellner beginnt es zu sprechen: „Ich“, sagen sie, erzählen je einen Frauenhandelfall, als wäre es ihnen passiert, zwischen Alltagsverrichtungen. Schon die Mischung aus Distanz und Buchstäblichkeit sorgt für Irritation, gelegentlich von kleinen Ausrutschern verstärkt, zusätzliche Horroreffekte in Sounddesign und Kamerafahrten sind fast schon zu viel: Das Unerhörte an dieser inszenierten Dokumentation ist gerade die Beiläufigkeit, mit der Missverhältnisse offenbar werden.

Die aufgeräumten Lebenswelten der Erzähler sind nahe an den Geschichten von Macht und Missbrauch, von Gewalt und Geld, könnten sie jederzeit kreuzen. Die Parallele ist deutlich: Die Schattenwirtschaft eines Sklavenhandels mit Ostfrauen existiert hier, jeder weiß es, aber normal wird sie nicht angesprochen.

Gerade indem die Fälle verallgemeinert worden sind, der Identifikationsmechanismen beraubt, wird das Allgemeine der Situation betont, ein Tabu gebrochen, aber ganz unaufgeregt: Das nimmt Salomonwitz' kühlem, intelligenten Planspiel nichts vom Nachdruck – im Gegenteil, es betont die Entschiedenheit ihres Einspruchs. In diesem Sinne wird der Start des Films von eine Serie von Diskussionen, etwa zur problematischen Gesetzeslage, produktiv begleitet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.10.2007)

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