"Sicko": Fehler im Gesundheits-System

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Neu im Kino. Michael Moores bester und schlechtester Film: „Sicko“. Ab Freitag.

Mit Sicko hat Michael Moore seinen besten und schlechtesten Film gemacht: Das klingt nach einem Widerspruch, aber auch Moores Filme haben sich zunehmend dahin entwickelt, alle Widersprüche für seine populistische Polemik aus dem Weg zu räumen. Sicko ist logischer wie konfuser Endpunkt: Die berechtigte Attacke gegen Auswüchse des US-Gesundheitssystems endet als (kaum überzeugendes) Porträt Kubas als sozialistisches Paradies wie als (ziemlich überzeugende) Bloßstellung institutionalisierter kapitalistischer Extreme als systematische Selbstabschaffung der Menschheit.

Und das ist nicht einmal metaphorisch zu verstehen: Eine Passage des Films zeigt, wie mittellose Patienten eines Krankenhauses in Los Angeles auf die Straße geworfen werden – buchstäblich: menschlicher Müll. Weiß Michael Moore, was sein Film unterstellt?

Profitdenken statt hippokratischem Eid

Dass sein Porträt des Gesundheitssystems auf eine Ansammlung von Symptomen hinausläuft, die das ganze große System des (US-)Kapitals als Maschine zeigen, die vampirisch menschliche Arbeitskraft aussaugt und dann die leeren Hüllen wegwirft?

Vielleicht ahnt er es: Das würde erklären, warum er sich ständig genötigt fühlt, Entertainment-Medizin in Form mehr oder minder billiger Lacher, Tränendrücker und anderer Ablenkungsmanöver zu verabreichen.Sicko beginnt mit so einem Schlenker: Ein Mann greift zum Nähzeug, um seine Wunde selbst zu verarzten. Aber, erklärt Moore sogleich, in diesem Film geht es nicht um ihn oder die anderen 50 Millionen Amerikaner ohne Gesundheitsversicherung – sondern um die 250 Millionen US-Bürger mit.

Was nach einer halben Filmstunde nicht unbedingt wie ein Vorteil wirkt: Moore führt in gewohnter Manier Tragödien und Absurditäten wie Attraktionen vor. Ein Pensionistenehepaar muss, von Gesundheitsausgaben ruiniert, in den Keller der Tochter ziehen; eine Frau hat ihre Ansprüche verloren, weil sie ihren Nottransport in der Ambulanz nicht vorher genehmigen ließ.

Auf der anderen Seite gesteht etwa die Mitarbeiterin einer privatisierten Krankenversicherung unter Tränen, wie sie ihre Prämien verdiente, indem sie sparte, durch Verweigern teurer Hilfsleistungen: Profitdenken löst den hippokratischen Eid ab.

Überhaupt wird viel geweint in Sicko, übrigens fast immer von Frauen: Rührseligkeit triumphiert im Zweifelsfall über Faktensicherheit, wie stets bei Moore, der andererseits seine gewohnten Gags nicht nur aus dem Hut zaubert. Für unter- bis griffigen Witz sorgen nicht nur verlässlich idiotische Sprüche von Präsident Bush, sondern auch ein Seitenwechsel von Hillary Clinton, die in den 1990ern die allgemeine Krankenversicherung einführen wollte, nach dem Scheitern an der Lobby die Seiten wechselte. Genüsslich lässt Moore die „Kaufpreise“ der Politiker aufblitzen: Spenden von den profitierenden Versicherungsfirmen. (Hillary Clinton ist nunmehr zweitplatziert.)

Paradiesisches Europa und Kuba

Nach der Demontage ist es wieder Zeit für Moores Selbstinszenierung: Seine beleibte wie vielerorts beliebte Präsenz soll dazu dienen, dem gegen die Idee eines verstaatlichten Gesundheitssystems prinzipiell voreingenommen US-Durchschnittsbürger die Vorteile desselben näher zu bringen. Mit gespielter Fassungslosigkeit lässt sich Moore wieder und wieder zeigen, worauf man jenseits der Grenze Anspruch hat, – ob Kanada, England oder Frankreich, eben zuletzt sogar beim kommunistischen „Erzfeind“ Kuba.

Moore hat prinzipiell recht, setzt ein paar gute Pointen, aber übertreibt hemmungslos. Immerhin wirft Sicko endlich für ein nichtamerikanisches Publikum mehr ab, als nur US-Dummheit vorzuführen: Trotz Unglaubwürdigkeit („Wie lange mussten Sie warten?“ – „10 Minuten!“) wird unmissverständlich klar, was bei Einsparungen im Gesundheitssystem auf dem Spiel steht, und wo es im Extremfall enden könnte: auf der Straße.

ZUR PERSON

Michael Moore (*1954, Flint, Michigan) ist mit polemischen Filmen zur umstrittenen populären Figur der US-Linken geworden: Mit Humor, mäßiger Faktentreue und viel Populismus attackierte er u.a. General Motors („Roger & Me“, 1989) ebenso wie Präsident Bush („Fahrenheit 9/11“, 2004).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.10.2007)

"Sicko"-Trailer

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