„Jüngere Familien sind eine Risikogruppe“

Kinderpsychiater Ernst Berger im Interview.

Die Presse: Ist die Zahl der Missbrauchsfälle von Kindern gestiegen?

Ernst Berger: Wir haben in Österreich keine detaillierten Erhebungen. Aber es gibt Längsschnittstudien in Deutschland, die eindeutig zeigen, dass Gewalt in der Familie in der Gesamtzahl zurückgeht.

Warum hören wir über viele Vorfälle?

Berger: Das Bewusstsein ist geschärft und es wurden anzeigbare Tatbestände geschaffen. Und besonders dramatische Geschichten werden in den Medien thematisiert. So entsteht der Eindruck, dass die Zahlen steigen.

Welche Form von Gewalt kommt am häufigsten vor?

Berger: Gewaltorientierte Erziehungsmaßnahmen sind immer noch der größte Teil, auch wenn die Zahl substanziell zurückgeht.


Ist nicht auch Sadismus im Spiel?

Berger: Das ist sicher die Minderzahl. Es gibt Erfahrungen, dass Gewaltanwendung häufig in Familien festzustellen ist, in denen es schon vorher Gewalt gab. Opfer werden zu Tätern. Aber der wesentliche Faktor ist Überforderung.

Wer ist davon besonders betroffen?

Berger: Jüngere Familien sind eine Risikogruppe, auch Kinder mit Entwicklungsstörungen und Behinderungen, die Erwartungen ihrer Eltern nicht erfüllen.

Kann man Risikofamilien im Vorhinein ermitteln?

Berger: Man darf die Prognosemöglichkeit nicht überschätzen, aber grundsätzlich ja. Ich denke, dass die Diskussion in die falsche Richtung geht – die Suche nach Schuldigen. Es geht darum, dass man präventiv unterstützt. Man muss Vertrauen zu den Familien aufbauen. Das braucht eben Zeit, und ein Sozialarbeiter darf nicht dafür verantwortlich sein, gleich 60 Familien zu kontrollieren. eko

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2007)

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